Koloniale Wissensproduktion hat an der Universität Tübingen eine lange Tradition. Zwei Historiker*innen erklärten im Rahmen der Studium-Generale-Reihe Tübinger Wissenschaft und Gewalt, warum die kolonialistische Forschung erst an Fahrt aufnahm, als Deutschland keine Kolonien mehr hatte, und wie sie bis heute fortwirkt.
Unter dem Titel Ein gewaltiges Unternehmen? Koloniales Denken und Wissen made in Tübingen sprachen die Historiker*innen Vera Brilloswki und Johannes Großmann am Donnerstag über die koloniale Vergangenheit der Stadt Tübingen. Im Fokus des Vortrags stand, wie die Universität in der Vergangenheit koloniales Wissen produzierte. Doch was bedeutet das überhaupt?
Koloniales Denken und Wissen
Koloniale Wissensproduktion meint nicht nur Forschung, die in Kolonien stattfand oder sich mit Kolonien beschäftigte. Gemeint ist eine Form von Wissenschaft, die koloniale Herrschaft mit hergestellt, legitimiert und stabilisiert hat. Dazu gehören rassistische Annahmen wie die Behauptung, Menschen ließen sich in biologische oder kulturelle Hierarchien einteilen. Verbreitet war auch die Vorstellung, ‚afrikanische Völker‘ seien ‚unzivilisiert‘ und näher am ‚Urzustand‘ des Menschen. Daher, so meinte man, müssten ihre Lebensweisen dokumentiert werden, bevor die Moderne sie ‚zerstören‘ würde.
Solche Prämissen entschieden darüber, wie geforscht und was auf Exkursionen gesammelt wurde. Gleichzeitig legitimierten sie koloniale Gewalt: Wer andere als minderwertig oder ‚zurückgeblieben‘ betrachtete, rechtfertigte das eigene Eingreifen, Sammeln, Fotografieren und Klassifizieren, auch gegen den Willen der Betroffenen. Dabei sahen sich die europäischen Wissenschaftler*innen selbst als Entdecker*innen im Dienste der Wissenschaft.
Tübingen als Zentrum kolonialer Wissensproduktion?
Tübingen sei kein Zentrum der Kolonialforschung gewesen wie Berlin oder Hamburg, erklärten Brillowski und Großmann in ihrem Vortrag. Allerdings sei die Universität Tübingen seit dem 19. Jahrhundert in die Produktion kolonialen Wissens aktiv involviert gewesen. Tübinger Wissenschaftler*innen hätten auf Expeditionen geographische, zoologische und ethnologische Objekte gesammelt und diese in die universitären Institute gebracht.

Nach 1918, als Deutschland seine Kolonien verloren hatte, nahm die Kolonialforschung in Tübingen paradoxerweise an Fahrt auf. Die Zwischenkriegszeit war geprägt von kolonialrevisionistischen Bestrebungen, also dem Wunsch, die verlorenen Kolonien zurückzuerlangen. Wissenschaftler*innen wie der Paläontologe Edwin Hennig argumentierten, dass Kolonien auch aus wissenschaftlichen Gründen bedeutsam seien, um Forschung vor Ort betreiben zu können.
Die kolonialen Forschungsinteressen und politischen Ansichten der Lehrstuhlinhaber seien auch in den Lehrveranstaltungen der Universität präsent gewesen und damit an die nächste Generation weitergegeben worden, betonten Brillowski und Großmann.
Kolonialismus und Nationalsozialismus waren eng verflochten
Ein zentrales Argument des Vortrags: Der Nationalsozialismus war keine Zäsur, sondern verstärkte die koloniale Wissensproduktion, die Tübinger Wissenschaftler*innen bereits in den 1920er Jahren praktizierten. Viele dieser Wissenschaftler*innen befürworteten die NS-Bewegung früh oder passten sich ihr problemlos an.
Neue Forschungsinstitute, zum Beispiel für Volkskunde oder Urgeschichte, wurden gegründet und waren mit ihrem völkisch rassistischen Weltbild gut kompatibel mit der kolonialistischen Forschung. Statt ihr Wissen im sprichwörtlichen Elfenbeinturm zu erwerben, warben die Wissenschaftler*innen damit, dass sie sich mit konkreten Objekten auseinandersetzten und empirische Forschung vor Ort betrieben. Auch brachten sie von ihren Exkursionen weiterhin Fundstücke nach Tübingen mit.

Einige NS-belastete Wissenschaftler*innen konnten laut Brillowski und Großmann nach 1945 ihre Forschung unbehelligt fortsetzen – darunter Edwin Hennig und die ‚rassekundliche Praktikerin‘ Sophie Erhardt. Diese habe aktiv zur nationalsozialistischen Verfolgung der Sinti und Roma beigetragen, indem sie diese für die ‚rassehygienische Forschungsstelle‘ in Tübingen erfasst habe. Als außerplanmäßige Professorin gab Erhardt ab 1957 ihr Wissen an Studierende weiter. Völkisches und koloniales Denken fanden mit dem Ende des Nationalsozialismus also keinen Schlussstrich, sondern wirkten fort.
Koloniale Wissensproduktion wirkt bis heute fort
Mit den Expeditionen der Deutschen Nansen-Gesellschaft wurden koloniale Praktiken in Tübingen wieder aufgenommen, so die Vortragenden. Unter der Leitung des Amateurs und selbsternannten Afrikaforschers Oskar Luz startete 1962 eine Expedition in den Sudan. Mit dabei: die NS-Filmemacherin Leni Riefenstahl, die später auch für ihre Fotografien der sudanesischen Nuba weltbekannt wurde. Unter der Bezeichnung Nuba werden rund 50 indigene Volksgruppen gefasst, die in den Nuba-Bergen im Süden des Sudans leben.
Über einen Zeitraum von 15 Jahren veranstaltete die Nansen-Gesellschaft Exkursionen, von denen universitäre Institute profitierten, indem sie hierbei ihre Sammlungen erweiterten. Allerdings mussten die kolonialen Narrative an die nachkoloniale Zeit angepasst werden. So brachte sich die Nansen-Gesellschaft die Zusammenarbeit mit entwicklungspolitischen Institutionen ins Spiel. Doch die rassistischen Grundannahmen blieben bestehen, wie die beiden Historiker*innen betonten.

Mit der letzten Expedition sei die koloniale Wissensproduktion keineswegs abgeschlossen gewesen. Schließlich befänden sich Objekte, die im Zuge der zahlreichen Exkursionen der letzten 150 Jahre nach Tübingen kamen, weiterhin im Besitz der Universität. Und diese würden bis heute wissenschaftlich genutzt.
Dabei bemängelten Brillowski und Großmann, dass die heutige wissenschaftliche Arbeit oft unreflektiert an die koloniale Praxis anschließe. „Das Bewusstsein für die koloniale Vergangenheit der Universität ist begrenzt“, bemerkten die Historiker*innen. „Die Forschung zur Kolonialvergangenheit Tübingens steht noch am Anfang.“
Die Vortragsreihe Tübinger Wissenschaft und Gewalt: Historische Perspektiven – künftiges Gedenken läuft bis Ende des Wintersemesters. Die nächste Veranstaltung findet am 27. November statt und behandelt die Rolle der evangelischen Theologie im Tübinger Nationalsozialismus.
Beitragsbild: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

