Der Tübinger Dichter Friedrich Hölderlin ist schon über 150 Jahre tot – vergessen oder sagenumwoben? Verstaubt oder hochaktuell? Die Tübinger Stadtbevölkerung, Wissenschaftler*innen, Studis und Kurator*innen haben da ganz unterschiedliche Meinungen. Eins ist jedoch klar: Der lokalen Berühmtheit kann man zwischen Altstadt, Neckarfront und historischem Friedhof (fast) begegnen. Aber macht ihn das auch relatable? Unsere Redakteurin ist auf literarische Spurensuche gegangen.
Bei allen Rätseln und Mythen, die sich um Hölderlins Leben (1770-1843) ranken, ist das um seinen Tod fast das mysteriöseste. Während sein offizielles Grab auf dem historischen Tübinger Stadtfriedhof liegt, werden in Nürtingen, wo der Dichter einst die Lateinschule besuchte, ganz andere Dinge gemunkelt. Eine Absolventin des heutigen Hölderlingymnasiums verrät uns die urbane Legende: Der Leichnam von Johann Christian Friedrich Hölderlin befinde sich noch heute in den Luftschächten des Schulgebäudes. Sie selbst sei ihm zwar noch nicht begegnet, dieser Fakt gehöre aber zum kollektiven Wissen der Nürtinger Schülerschaft.
Neben seinem Geburtsort in Lauffen am Neckar und der Schulzeit in Nürtingen, liegen die meisten Hölderlin-Orte in Tübingen. Ein Literaturpfad, mit Buch oder App erwanderbar, führt in circa 90 Minuten die Straßen entlang, in denen Neugierige ihm begegnen können. Ist es denn möglich, sich Menschen nah zu fühlen, die vor so langer Zeit hier lebten? Kann man sich mit Menschen identifizieren, die so anders sprachen wie wir heute? Wie relatable ist Hölderlin?
Studileben, Liebes- und Geldsorgen – einmal das ganze Paket
Eine Station ist der Tübinger Stift, in dem Hölderlin auf Wunsch seiner Mutter von 1788 bis 1793 Theologie studierte, obwohl er sich damals schon zum Poeten berufen fühlte und lieber mit Freunden einen „Dichterbund“ gründete. An einen Freund schrieb er während dieser Zeit: „Daß ich noch im Kloster bin, ist Ursache die Bitte meiner Mutter. Ihr zu lieb kann man wohl ein paar Jahre versauern.“ Eine Verlobung mit seiner ersten Liebe Louise Nast löste er in seinen Studijahren wieder auf und verabschiedete sich von ihr per Brief mit den Worten: „Es ist und bleibt mein unerschütterlicher Vorsatz, Dich nicht um Deine Hand zu bitten, bis ich einen Deiner würdigen Stand erreicht habe.“ Zu einer erneuten Verlobung kam es jedoch nicht. Dichter schreiben viel, wenn der Abend lang wird.
Stattdessen veröffentlichte er erste Gedichte. Freundschaften mit Hegel und Schiller begleiteten ihn, sein Lebensweg blieb jedoch sehr unstet. 1800 schrieb er an seine Familie: „Nur Glauben und Liebe und Hoffnung soll nie aus meinem Herzen weichen, dann gehe ich, wohin es soll, und werde gewiß am Ende sagen: ich habe gelebt!“

Mit all diesen Namen unterschrieb Hölderlin im Laufe seines Lebens seine Werke. Ein Bild aus dem Hölderlinturm. Foto: Marlene Krekeler
13 Jahre nach seinem Abschluss – statt Pfarrer war er Hauslehrer und Bibliothekar in verschiedenen Ecken Frankreichs und Deutschlands gewesen – kehrte er nach Tübingen zurück. Zwischen verbotenen Liebschaften, Geldsorgen und dem immerwährenden Schreiben wurde ein weiteres Thema immer präsenter in seinem Leben: Gesundheit und Krankheit. Ab 1806 begann eine Zwangsbehandlung im Tübinger Universitätsklinikum, die für seine körperliche und geistige Gesundheit kaum förderlich gewesen sein kann. Nach 231 Tagen fragwürdigen Anwendungen wurde er als „unheilbar“ entlassen und galt unter seinen Zeitgenossen als wahnsinnig.
Die zweite Hälfte des Lebens, ein Turmleben
Eine Tischlerfamilie, die im heutigen „Hölderlinturm“ wohnte, nahm ihn als Pflegefall auf. Im Haushalt von Ernst Zimmer wurde der Dichter für seinen Roman „Hyperion“ sehr bewundert – er sollte dort die zweite Hälfte des Lebens verbringen. Eins seiner berühmtesten Gedichte ist heute an die Wände des Treppenhauses im heutigen Museum gedruckt. Es sind jene Worte, mit denen auch ich Hölderlin das erste Mal begegnete. Der gelbe Turm neben der Weide fehlt auf keinem Foto der Neckarfront und doch vergingen Jahre, bis ich ihn das erste Mal betrat. Und es sind auch diese Worte der „Hälfe des Lebens“, die Hölderlin für mich relatable machen, die das Ringen mit allen Widersprüchen des Lebens auf den Punkt bringen:
Hälfte des Lebens
Mit gelben Birnen hänget
und voll mit wilden Rosen
das Land in den See,
ihr holden Schwäne,
und trunken von Küssen
tunkt ihr das Haupt
ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
es Winter ist, die Blumen und wo
den Sonnenschein
und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
sprachlos und kalt, im Winde
klirren die Fahnen.
Kaffee kochen geht auch ohne Hölderlin
Mit der Sprachlosigkeit in der Sprache, fragmentartigem und experimentellem Schreiben gilt der Dichter heute als einer der frühsten Wegbereiter der Moderne. Auch wenn ich von jenem Tag an fasziniert war von diesem Ort, samt Garten am Neckarufer und Museumscafé, Enten und Libellen, kann ich es doch niemandem verübeln, von Hölderlin noch nicht viel mitbekommen zu haben. Es sind eben doch immer die Dinge in der eigenen Stadt, die man nicht auf dem Schirm hat. Ich sprach mit Bewohner*innen der Hölderlinstraße, und fragte, ob sie dem Poeten schon mal begegnet seien. Denken sie manchmal an den Namensgeber ihrer Straße? „Weder beim Kaffee kochen, noch lernen, nicht beim Mittagessen und auch nicht auf der Arbeit.“ Ernüchternd. Ist Hölderlin also doch egal?

Der Garten des Hölderlinturms ist als kleine, versteckte Wohlfühloase offen für die Tübinger Stadtbevölkerung. Birnen- und Quittenbäume wachsen im Schatten der großen Platanen. Bild: Marlene Krekeler.
Ruhm, Streit und Queerness?
Nicht für andere Menschen. Obwohl der Schriftsteller während seinen Lebzeiten nicht viel Ruhm erheischte, wurde er in den darauffolgenden Jahrhunderten bekannt wie ein bunter Hund. Hölderlin wurde international gelesen und vor allem im anglophonen Raum beschäftigt sich die Forschung viel mit ihm – der Hölderlinturm ist heute ein internationales Tourismusziel. Auch eine Naturwissenschaftlerin aus Italien verschlug es in den Turm. Sie erzählte dmir, dass ein alter Freund ihr mal einen übersetzten und selbst gebastelten „Best of Hölderlin“-Band geschenkt hätte. Sie, damals sehr gerührt von der Geste und den Gedichten, wollte nun mal persönlich vorbeischauen. Literaturwissenschaftler*innen hingegen treibt die Frage um, ob Hölderlin wirklich psychisch krank war oder all dies nur eine Fassade.
Wenn es uns hilft, können wir gerne queer nennen, was ich in Hölderlins Werk einfach immer so erfrischend natürlich empfand.
Instagram-Nutzerin
Ein weiteres Rätsel, neben der Datierung seiner eigenen Gedichte in falsche Jahrhunderte, ist seine sexuelle und romantische Orientierung. Seine enge „Freundschaft“ zu Isaac von Sinclair, sowie viele Passagen in seinem Werk, lassen Raum für Spekulationen. Ende des 19. Jahrhunderts gehört Hölderlin bereits zu den Identifikationsfiguren der frühen Homosexuellenbewegung. Er taucht immer wieder in queeren Gedichtbänden auf und auch bei der Inszenierung vom „Hyperion“ im LTT 2021 sind die romantischen Momente zwischen dem Protagonisten und dem Freiheitskämpfer Alabanda nicht gerade subtil.
Zum Pride Month 2025 veröffentlicht das Museum einen Instagram Post mit der Frage „Können Hölderlins Werke als queer bezeichnet werden?“ Eine Nutzerin schreibt daraufhin einen langen Kommentar voller Herzblut: „Wenn es uns hilft, können wir gerne queer nennen, was ich in Hölderlins Werk einfach immer so erfrischend natürlich empfand: Dass alle Facetten des menschlichen Fühlens darin zum Tragen kommen, ohne eine dieser zu verleugnen und ohne sich dafür zu rechtfertigen. (…) Ob als queer einzuordnen oder nicht: Hölderlin hat uns auf jeden Fall etwas zu sagen im Hinblick auf Offenheit, Respekt und Akzeptanz als auch zum Sichbekennen zu Gefühlen, auch gegen die vorherrschenden Konventionen und Ressentiments!“

Schwer zu entziffern? Die alten Dokumente im Turm behalten ihre ganz eigene Ausstrahlung auch noch nach Jahren im Archiv – oder auch gerade wegen ihres hohen Alters. Bild: Marlene Krekeler.
Jahrhunderte voller (un)möglicher Begegnungen
Also ist er doch nicht so egal? Wem Hölderlin auf jeden Fall nicht gleichgültig war, sind Martin Heidegger und Paul Celan. Die beiden Berühmtheiten des 20. Jahrhunderts – ein antisemitischer Philosoph und ein jüdischer Lyriker – verehrten den Tübinger Dichter. Trotz den ideologischen Gräben korrespondierten sie neun Jahre lang, bis sie sich das erste Mal trafen. Sie verband die gemeinsame Verehrung Hölderlins, sowie gegenseitige akademische und literarische Anerkennung. Doch bei den großen Fragen Celans zu Heideggers Rolle im Nationalsozialismus schwieg dieser.
Der Beziehung zwischen den drei historischen Figuren widmete sich die letzte Sonderausstellung Celan. Hölderlin. Heidegger. Eine unmögliche Begegnung. Drei Plastiken des Künstlers Peter Brandes nahmen den Ausstellungsraum ganz ein und stellten Fragen, die weit über ihr Jahrhundert wichtig bleiben: Wie können Menschen einander begegnen, deren politische und persönliche Einstellungen nicht weiter voneinander entfernt sein könnten?
Bei einem Kaffee im Waschhaus sprach ich mit dem Kurator. Er ist Hölderlin bereits im Griechisch-LK und dem Philosophiestudium in Tübingen begegnet. Was Florian Mittelhammer an der Museumsarbeit umtreibt, ist jedoch ebenjene Frage: Wie kann Immaterielles greifbar werden? Wie können Begegnungen ermöglicht werden zwischen den Menschen, die heute leben, und Gedanken, Gefühlen und Ideen, die nun schon 200 Jahre hinter uns liegen? Das Sprachlabor und weitere interaktive Stationen bieten eine lebendige Auseinandersetzung mit Poesie. Vom Oxymoron und Neologismus bis zum Veranstaltungs- und Begegnungsort für Kultur- und Schreibprojekte will das Literaturmuseum ein offener Ort für die Tübinger Stadtbevölkerung sein.
Nicht relevant? Merkste selber!
Auch in den zukünftigen Ausstellungen – zum Beispiel über mentale Gesundheit und Schreiben als Lebensstrategie – soll immer wieder der Frage nachgegangen werden: Was macht Hölderlins Texte und Leben heute relevant? Und wenn weder dieser Artikel, noch das Museum oder die anderen Hölderlin-Orte Tübingens zur Beantwortung dieser Frage reichen, muss man vielleicht doch mal in den Luftschacht des Nürtinger Gymnasiums klettern.
Beitragsbild: Sophia Janocha.

