Politik

USA vor der Wahl: „Wenn Wahrheiten nicht mehr Wahrheiten sind“

„Medienspaltung“, „Wahrnehmungsspaltung“, „Polarisierung“ – und ein Land „auf Droge“: Die Diagnosen der Politologin Cathryn Clüver Ashbrook mit Blick auf die US-Wahlen im kommenden Jahr sind ernüchternd. Die Diskussion des d.a.i. am Abend des 16. Novembers machte deutlich: Die Vereinigten Staaten stehen nicht nur vor einer richtungsweisenden Wahl, sondern auch vor tiefgreifenden, schier unlösbaren Problemen.

Wenn in knapp einem Jahr, am 5. November 2024, in den USA ein neuer Präsident gewählt wird, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass im Anschluss ein alter Bekannter ins Weiße Haus einzieht. Sowohl der aktuelle Amtsinhaber Joe Biden, der morgen seinen 81. Geburtstag feiert, als auch der 77-jährige Ex-Präsident Donald Trump hat seine Kandidatur bekannt gegeben. Was ein Erfolg eines der beiden „alten weißen Männer“ für die Vereinigten Staaten und die Welt bedeuten würde, was die amerikanische Politik und Gesellschaft gerade umtreibt – auch mit Blick auf die akuten internationalen Krisen – darum ging es am Donnerstagabend in einem Diskussionsformat des Deutsch-Amerikanischen Instituts Tübingen (d.a.i.) mit der Politikwissenschaftlerin Cathryn Clüver Ashbrook. Auf einen etwa halbstündigen Vortrag der gebürtigen Wiesbadenerin folgte eine von Katharina Luther, der Direktorin des d.a.i., moderierte Fragerunde.

Seine Niederlage bei den Wahlen 2020 gestand Trump nicht ein. Bild: Pixabay

Biden vs. Trump 2.0?

Bezeichnend ist, wie selten in Clüver Ashbrooks Ausführungen, die ja durchaus vorhandenen Konkurrenten Trumps und Bidens im Rennen um die amerikanische Präsidentschaftskandidatur Erwähnung finden – und das nicht ohne Grund: Es scheint im nächsten Jahr auf eine Neuauflage des Duells von 2020 hinauszulaufen. Was dies für die 333-Millionen-Einwohner-Republik bedeuten könnte, offenbart ein Blick zurück in die jüngste Vergangenheit: „Die letzten drei Wahlen hätten ja nicht deutlicher machen können, in welcher Bewegung sich die USA per se befinden – kulturell, demografisch, wirtschaftlich. Obama, Trump, Biden.“

„Daraus wurden vier Jahre im Weißen Haus, die für die Integrität der amerikanischen Demokratie nicht schwieriger hätten sein können.“

Cathryn Clüver Ashbrook

Donald Trump, so die deutsch-amerikanische Politologin, habe ein Erdbeben im politischen System der Vereinigten Staaten ausgelöst. Seine Amtszeit? „Vier Jahre im Weißen Haus, die für die Integrität der amerikanischen Demokratie nicht schwieriger hätten sein können.“ Das Ende dürfte den meisten noch in Erinnerung sein: Am 6. Januar 2021 drang ein aus Hunderten von Trump-Anhängern bestehender gewalttätiger Mob ins Kapitol in Washington ein, um, so Clüver Ashbrook, eine friedliche Amtsübergabe an Joe Biden zu verhindern und die amerikanische Demokratie mithin von innen heraus zu zerstören. Fünf Tote und viele Verletzte waren die Folge, Kongressabgeordnete mussten um ihr Leben fürchten – und bis heute sind zahllose republikanische Wähler fest davon überzeugt, dass Donald John Trump der rechtmäßige Sieger der mittlerweile drei Jahre zurückliegenden Wahl sei.

Anfang 2021 kam es zum Sturm aufs Kapitol – eine Zäsur in der amerikanischen Geschichte.
Bild: Caleb Perez auf Unsplash

Trump als „Sprecher der Entrechteten“

Wie geht es den USA heute? Cathryn Clüver Ashbrook beobachtet eine seit Jahrzehnten immer größer werdende Einkommensschere, Deindustrialisierung und eine beständig schrumpfende Mittelschicht, zu der sich heute nur noch jeder zweite Amerikaner zählen könne. Der American Dream „war zunehmend ausgeträumt“. Große demografische Verschiebungen haben der Wissenschaftlerin zufolge dazu beigetragen, dass sich die weiße Mittelschicht teils überholt fühle und um Arbeitsplatz und dignity fürchte. Als Sprecher dieser vermeintlich „Entrechteten“ habe sich der heutige Ex-Präsident Trump etablieren können, der auf diese Weise Wähler zu akquirieren vermochte, die früher nie zur Wahl gegangen waren. „Insgesamt erleben wir eine Bevölkerung unter hohem Stress“, urteilt die Referentin.

„Wenn Wahrheiten nicht mehr Wahrheiten sind, dann sind wir in einem wirklich demokratiegefährdenden Umfeld.“

Cathryn Clüver Ashbrook

Die Medien sowie die Wahrnehmung der Bevölkerung seien gespalten und polarisiert, es gebe Hetzkampagnen, um sich greifende Desinformation und zu wenig Regulierung mit Blick auf Technologieunternehmen. In den sozialen Medien erkennt die Politologin „gefährliche Potenziale für diese Wahl, auch darüber hinaus, besonders mit dem Zusatz der KI“. Die Macht der Bilder, die Erfahrung einer allumfassenden Beschleunigung, der Einfluss von Tiktok auf die politischen Einstellungen der Jugend – Clüver Ashbrook sieht die Demokratie in Gefahr, wenn, wie bereits in den USA unschwer festzustellen, „Wahrheiten nicht mehr Wahrheiten sind“. Trump habe Desinformation und Lügen salonfähig gemacht.

Nicht nur nach Meinung Clüver Ashbrooks bergen Social Media „gefährliche Potenziale“ für Demokratien.
Bild: Pixabay

Der 7. Oktober und seine Auswirkungen auf den 5. November

Auch ein zentrales außenpolitisches Thema, das momentan im Fokus der Debatten steht, beeinflusse die amerikanische Stimmung und 2024 wohl auch die Wahlen im drittgrößten Staat der Erde: Der Terrorangriff der Hamas auf Israel, der am 7. Oktober 2023 begann und zum Krieg in Israel und Gaza führte. Besonders jüdische Studierende in den USA fühlten sich nun bedroht, so die Politikwissenschaftlerin, doch fänden sich auf beiden Seiten nun viel Leid und viele Emotionen. Angesichts zahlreicher Proteste, auch unter arabischstämmigen Amerikaner*innen, befinde sich der Präsident nun in einer politisch und moralisch „wahnsinnig schwierigen“ Situation. Auch mit Blick auf die amerikanische Erfahrung des 11. Septembers handle es sich bei Bidens Politik um einen „schwierigen Balanceakt“. Trump dagegen habe mehrmals Menschen unterstützt, die faschistische und antisemitische Positionen vertreten, und sich diese Auffassungen teils zu eigen gemacht. Der 77-jährige Politiker bezeichne seine politischen Gegner mittlerweile als „Ratten“ und wolle Migranten in Lager sperren – in seinen Reden gebrauche er „zum Teil faschistoide Sprache“. Diesen Sprachduktus hält Clüver Ashbrook für äußerst gefährlich – und fühlt sich „an unsere eigene Geschichte“ erinnert.

Dass Joe Biden heute ein alter Mann ist, darüber vermag er die Öffentlichkeit kaum hinwegzutäuschen. Sein republikanischer Hauptkonkurrent ist allerdings auch nicht mehr der Jüngste. Bild: Pixabay

Jahrgang 1942 – oder doch lieber 1946?

Grundsätzlich habe Joe Biden ihrer Meinung nach „ein großes, großes Wahrnehmungsproblem“. Der eigentlich keine vier Jahre später geborene Donald Trump werde als deutlich agiler und jünger wahrgenommen, obschon er in den letzten Jahren stärker als sein demokratischer Konkurrent kognitiv abgebaut zu haben scheine. In jedem Fall sei es „ein Armutszeugnis für die amerikanische Demokratie“, dass im November „wieder zwei alte Männer“ gegeneinander antreten könnten.

Zwischen Ukraine-Krieg, Abtreibung, Drogen und Prozessen

Ein weiteres Thema von Relevanz für die US-Wahlen im Jahr 2024 sei Russlands Krieg gegen die Ukraine, den Trump am ersten Tag seiner Präsidentschaft beenden möchte – er würde wohl das angegriffene Land zwingen, große Teile seines Staatsgebietes an den Aggressor abzutreten. Die Debatte, die in den USA entbrannte, nachdem das Recht auf Abtreibung auf Bundesebene gekippt worden war, nütze den Demokraten und sei sehr bedeutsam für die Wahlmotivation der jungen Generation. Darüber hinaus stelle die Opioidkrise in den USA ein drängendes Thema dar: Die Todesfälle schnellten in die Höhe, das Land sei „auf Droge“. Im Hinblick auf Trumps zahlreiche Gerichtsprozesse bemerkt Clüver Ashbrook, ihr sei „nicht ganz klar, wie Donald Trump aus diesen Verfahren ohne das entsprechende Strafmaß rauskommen soll und wird“.

Nach siebzig Minuten ist die Veranstaltung beendet. Die Politologin schließt mit einem Plädoyer für gesellschaftliches Engagement und den Einsatz für den menschlichen Zusammenhalt: „Denn das macht ja unsere Demokratien erst lebenswert.“

Beitragsbild: Pixabay

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert