Liebs Themenwoche

liebs: Deutschland – mehr dicht, als denkend – ein Kommentar

„Wehret den Anfängen“, so heißt das geflügelte Wort. Die Anfänge haben wir leider verpasst. Mittlerweile steht die AfD bei über 20% an potenziellen Wähler*innenstimmen und verwendet öffentlich rechtspopulistisches Vokabular. „Die Evolution hat Afrika und Europa – vereinfacht gesagt – zwei unterschiedliche Reproduktions­strategien beschert.“ – Björn Höcke, AfD. „Brennende Flüchtlingsheime sind kein Akt der Aggression, sondern ein Akt der Verzweiflung gegen Beschlüsse von oben.“ – Sandro Hersel, AfD. „Dem Flüchtling ist es doch egal, an welcher Grenze, an der griechischen oder an der deutschen, er stirbt.“ – Günter Lenhardt, AfD. 

Auch du, Deutschland?

„I’ve spent my whole life ashamed of my country”, sagt Margaret March in Greta Gerwigs wunderschöner Verfilmung des Literaturklassikers Little Women. Dies ist zumindest für mich ein Satz, den ich selbst schon oft genau so formuliert habe. Unser Schulsystem sorgt, und zwar zurecht, dafür, dass wir spätestens ab der siebten Klasse jedes Jahr im Geschichtsunterricht qualvolle Stunden damit verbringen, uns die Verbrechen unserer Vorväter und -mütter neu vor Augen zu führen. Eine Exkursion in ein ehemaliges Konzentrationslager war zumindest in meiner Schule ebenfalls obligatorisch. 

Während die europäische Politik dieser Tage im Großen und Ganzen erschreckend weit nach rechts taumelt, so bleibt es für mich doch mit Abstand am schockierendsten, ja obszönsten, dass auch in Deutschland mit rechtsradikalem Gedankengut hausieren gegangen wird – es scheint erneut salonfähig geworden zu sein, siehe Aiwanger. Ein Land, dessen Bürger*innen sich befremdlich gut merken können, wer ihnen wie viel Geld oder wie viele Tupperschüsseln schuldet, schafft es, binnen keines vollen Jahrhunderts völlig zu vergessen, wieso wir nicht gerne unsere Fahnen schwenken und nicht gerne unsere Hymne singen. 

Deutschlands neuer Hitler

Als „new Hitler“ bezeichnete der Guardian Björn (oder Bernd? Bob?) Höcke – Worte, die sich deutsche Zeitungen dieses Formats bisher nicht trauten, in den Mund zu nehmen. Laut neuesten Umfragen zur  kommenden Bundestagswahl 2025 (Stand 19. September), kommt die AfD auf satte 21,9%, das wäre ein Zuwachs von 11,6% seit der letzten Bundestagswahl. Die vielfachen Beweise des Rassismus’ und der Menschenverachtung, die uns Höckes Partei bisher geliefert hat, scheinen nicht ausreichend gewesen zu sein, um potentiellen Wähler*innen zu verdeutlichen, wie die AfD wirklich denkt. Eine Partei, die sich weigert, in den Applaus für die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch mit einzustimmen, ist nicht rebellisch, nicht provokativ, nicht einfach nur dumm, sondern böse. Und brandgefährlich. 

Es war sicher nie die schönste Farbkombination, aber im Hinblick auf die jüngsten politischen Ereignisse, sieht man sie noch ungerner, als je zuvor. Foto: Pixabay

Inhalte des Grundsatzprogramms

Die AfD ist nicht nur brandgefährlich, weil sie die Wehrpflicht wieder einführen will, nicht, weil sie Russland für einen adäquaten globalen Partner hält, und nicht, weil sie zum großen Teil aus Laien besteht – Sachsen-Anhalts AfD kann sich mit Ronny Kumpf, einem ehemaligen Porno-Darsteller rühmen. Die AfD ist brandgefährlich, weil sie symbolisch dafür steht, was in Deutschland seit vielen Jahren schief läuft. Sie steht für das Vergessen, für das Nivellieren von Kriegsverbrechen, für Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Wenn die AfD 2025 den*die Bundeskanzler*in stellt, dann ist das das Ende des Deutschlands, von dem die meisten ihrer Wähler*innen träumen – das Land der Dichter und Denker verdient diesen Titel schon lange nicht mehr und wird damit schlussendlich sein Gesicht verlieren. Setzt die AfD auch nur einen Bruchteil ihres Parteiprogramms um, so setzt Deutschland damit ein Zeichen gegen seine einstmals weithin geschätzte Tradition. Universitäten, deren philosophische, literaturwissenschaftliche oder geschichtliche Fachbereiche bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen, sollen auf MINT-Fächer ausgerichtet werden. Ich zitiere aus dem Grundsatzprogramm der AfD: „Steigerung des Anteils der Studienanfänger ausschließlich bezogen auf die MINT-Fächer“. Die Professuren für Gender-Studies sollen nicht weiter vergeben und Forschungsprojekte dieses Bereichs abgeschafft werden. 

Und selbst, wenn einem der (noch) exzellente Status vieler deutscher Universitäten völlig egal ist, lohnt sich ein genauer Blick ins Grundprogramm der AfD. Ein Verbot der Burka und des Niqab im öffentlichen Raum, Kopftuchverbot in Schulen sowie die Schließung aller Koranschulen zeigt, wie eine Religion und Kultur, die seit Jahrzehnten auch in Deutschland heimisch ist, „reformiert“ werden soll. Eine Senkung des Strafmündigkeitsalters auf zwölf Jahre, die Rückkehr zur Braunkohle, konsequente Abschiebung von Geflüchteten entgegen der „Einwanderungslobby“ und natürlich die Abwendung vom EEG und erneute Hinwendung zum Fracking grinsen einem zudem hämisch aus den Seiten des Parteiprogramms entgegen. 

Das Land der Dichter und Denker

So geht eine Nation und Kultur zugrunde, die einst zurecht den Titel der „Dichter und Denker“ trug. Die angeblich traditionsbewusste AfD und selbstverständlich jede Partei, die einer Koalition mit ihr zustimmt und nicht klare Kante zeigt (eine lobende Erwähnung der CDU/CSU in Thüringen an dieser Stelle), trägt zum weiteren Verfall der deutschen Kultur bei und spuckt damit auf die Gräber der wirklichen Dichter und Denker, die einst in Deutschland ihr Zuhause sahen. Unsere größten Künstler*innen, deren sich stets gerühmt wird, hätten mitnichten den aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland zugestimmt. Johann Wolfgang von Goethe hat einen gesamten Gedichtzyklus dem Islam und dem Orient gewidmet, man munkelt sogar, er sei vor seinem Tode konvertiert. Friedrich Schiller als Ästhet lehnte jede Art von Radikalismus ab. Bernhard von Brentano war in der KPD und Bertolt Brecht schrieb sein berühmtes Gedicht An die Nachgeborenen gegen den Hass und gegen das Vergessen. 

Goethe und Schiller – die beiden Männer waren sehr gute Freunde bis zum Tod des jüngeren Schiller. Foto: Pixabay

Den regierenden Politiker*innen, die stets Sitzfleisch für Festzelte und Talkshows über den „Gender-Wahn“ haben, fehlt es an Rückgrat und Anstand, um sich konsequent gegen die AfD zu positionieren, während diese die wenigen Parteien, die sich ihr entgegenstellen, diffamiert. Während Politik und Polizei sich ausgiebig mit dem sogenannten „linken Terror“ und dem Problem der „Klimakleber*innen“ befasst, scheinen sie taub und blind zu sein für die drohende rechtsradikal-destruktive Welle, die immer mehr an Kraft zunimmt und sich bereit macht, 2025 über uns hereinzubrechen. Mehr dicht, als denkend frönen die Verantwortlichen derzeit ihrer „Kultur“ auf der Wiesn mit Bier und Schweinshaxn. (Wie Brecht so treffend sagte: „Erst kommt das Fressen. Dann kommt die Moral.“) Währenddessen erreicht die AfD in den bundesweiten Umfragen neue Höchstwerte und gibt sogar an, eine*n Kanzlerkandidaten*in aufstellen zu wollen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Deutschland von einem rechtsradikalen Faschisten regiert wird – Karl Marx schrieb, dass die Geschichte sich immer wiederholt. Einmal als Tragödie und einmal als Farce. Ob er damit Recht hatte, wird sich zeigen. 

Den potentiellen Wähler*innen der AfD, die um ihr traditionsbewusstes Deutschland besorgt sind, kann ich nur sagen: Macht euch bereit dafür, dass auch das letzte bisschen „Tradition“ und mit ihr das letzte Quäntchen an Würde, das Deutschland noch bleibt, so zugrunde gehen wird. Schiller schrieb: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.“ Hoffen wir es. Gerne bald. 

Titelbild: Pixabay

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