Stefan Morent hat seit November 2020 als Professor den Lehrstuhl für Digitale Musikwissenschaft und Musik vor 1600 in Tübingen. Im Gespräch mit der Kupferblau erzählt er von der Geschichte des Instituts und des Pfleghofs, in dem die Musikwissenschaften untergebracht sind. Das Institut feiert diesen Sommer sein 100-jähriges Jubiläum.
Aus der Geschichte lernen
1923 wurde im Tübinger Pfleghof das Institut für Musikwissenschaft gegründet. Der damals amtierende Universitäts-Musikdirektor Karl Hasse setzte sich dafür ein, neben den diversen Chören und Orchestern nun auch eine musikgeschichtliche und -wissenschaftliche Institution in Tübingen aufzubauen. Heute zum Jubiläum begegnet man der Biographie des Gründers mit gemischten Gefühlen: „Hasse ist eine umstrittene und keineswegs unproblematische Persönlichkeit“, sagt Stefan Morent, gegenwärtig Professor am Musikwissenschaftlichen Institut, „Ihm haben wir die Gründung unseres Instituts zu verdanken. Gleichzeitig war er aber auch überzeugter Nationalsozialist. Wir versuchen, diesen Umstand offen und kritisch aufzuarbeiten.“
Zurück in die Zukunft
Generell könne man aus der Vergangenheit viel für die Gegenwart und die Zukunft gewinnen. Denn selbst wenn es das Institut ‘erst’ seit einem Jahrhundert gibt: “Musik gab es hier schon immer”. Während des Mittelalters war Musik eine der sieben freien Künste, die jeder (damals ausschließlich männliche) Student zumindest in der Theorie an der Universität absolviert haben musste, um ins Jura-, Medizin-, oder Theologiestudium aufzusteigen. Die Mönche, die seit 1492 den Pfleghof zur Lagerung von Abgaben und als Ort des Handels nutzten, brachten dann die musikalisch-liturgische Praxis in die Marienkapelle. Noch heute werden die Kapelle und der große Saal für Chorproben und Auftritte genutzt.
Insgesamt sei der Raum, in dem Musik gespielt werde, mindestens genauso wichtig wie die Musik selbst, so Morent. Der Professor beschäftigt sich mit seinem Schwerpunkt auf Digitalen Musikwissenschaften intensiv mit der Frage, wie man verloren gegangene Klangräume wieder zum Leben erwecken kann. Im Forschungsprojekt zu „Sacred Sound / Sacred Space“ werden beispielsweise zerstörte Kirchen virtuell wiederhergestellt – und das nicht nur visuell, sondern auch auditiv. „Aktuell ist das erstmal ein Forschungsentwurf, aber mit viel Potenzial für die Praxis.“ Ob man in Zukunft so ein VR-Erlebnis in Museen oder Ausstellungen erleben könnte, steht noch in den Sternen.
Vorerst stehen zum Jubiläum einige Veranstaltungen an. Am offiziellen Jubiläumstag, dem 22. Juli, erwartet Besuchende neben diversen musikalischen Beiträgen auch die Abschlussarbeiten des Seminars „Virtueller Pfleghof“ und Videos, Apps und Reels in Kooperation mit den Medienwissenschaften. Später im Jahr, Anfang November, wird es zusätzlich eine Präsentation der Neuaufstellung der Instrumentenausstellung „Klangkörper“ im Foyer des Pfleghofs geben.
Insgesamt schaut Professor Morent recht optimistisch in die Zukunft: „Mit zwei Lehrstühlen sind wir ein recht kleines Institut. Noch dazu beschränkt sich unser Forschungsfeld größtenteils auf europäische Musik. Dafür gehen wir aber historisch weit in die Tiefe und finden, zum Beispiel in der Digitalen Musikwissenschaft, immer wieder neue Herangehensweisen, das Vergangene zurück in die Gegenwart zu bringen. So können wir Praxis und Theorie vielleicht nicht unmittelbar verbinden, aber doch näher aneinander führen.“
Musikwissenschaft und Geschichte sind aber nicht die einzigen Dinge, die der Pfleghof vereint. Mehr über die Geschichte des Pfleghofs gibt es in unserem neuen Heft, was diese Woche an allen Universitätsgebäuden ausliegt!
Titelbild: Matthew Gardner