Große Emotionen, starke Worte und mitreißende Musik. Ein Einhorn-Kuscheltier fliegt durch die Luft. Ein Plädoyer für eine faire gemeinsame Zukunft, im Einklang mit der Natur. — Das sind meine Notizen nach dem Besuch der Veranstaltung PLURIVERSUM in Tübingen. Was hat sich dort abgespielt? Ich werde versuchen den Abend etwas genauer zu schildern.
Freitagabend 05.05.23, 19 Uhr
Gerade rechtzeitig zum Einlass ist das tosende Gewitter vorbei. Mit Regenjacken betreten nach und nach immer mehr Menschen die Westspitze. Ich sehe ein paar bekannte Gesichter, ich kenne das Team hinter dem Event, der grobe Programmablauf ist mir deshalb schon bekannt und ich freue mich sehr auf den Abend! Trotzdem weiß ich nicht genau was mich erwartet. Denn PLURIVERSUM ist immer einer anderen emanzipatorischen Stimme gewidmet, um neue Perspektiven zu schaffen und den eigenen Horizont zu erweitern.
Das Konzept der Veranstaltungsreihe PLURIVERSUM bietet marginalisierten Stimmen eine Bühne, um Gedanken zu teilen und Diskurse für eine gerechte Zukunft anzuregen. Dabei handelt es sich nicht um einen einfachen Vortrag, sondern ein abwechslungsreiches Programm. Das Tübinger Sextett Grupo Sal spielt zwischendurch lateinamerikanische Musik und es gibt passenden Bild-Projektionen von Johannes Keitel. Alberto Acosta und Sandra Weiss moderieren das Event und übersetzen die Sprecher*innen. In der Regel wird ein*e internationale*r Gastredner*in live zugeschaltet. Diesmal ist die Aktivistin Marilyn Machado Mosquera sogar live in Tübingen zu Gast, um ihre Erfahrungen zu teilen.
Musikalischer Auftakt
Der Saal füllt sich bis auf den letzten Platz, mit einer halben Stunde Verspätung beginnt das Programm mit einem einleitenden Musikstück des Telar e.V.‘s. Die Mitveranstalter*innen eröffnen den Abend mit einem Statement für mehr Sichtbarkeit von Diversität. Es folgt eine Begrüßung von Fernando Dias Costa, Mitglied der Band Grupo Sal und Leiter des Kulturbüros, in welchem die Idee für das Programm entstand. Er bedankt sich herzlich bei den zahlreichen Kooperationspartnern der Veranstaltung, welche zum Teil Stände im Foyer aufgebaut haben. Das erste Lied des Sextetts ist dem Regenwald gewidmet, dazu erscheinen passende grüne Bilder auf der Projektionsfläche hinter der Band. Der rhythmische Klang führt zu Fußwippen und Kopfnicken im Publikum.
Einführung und Buchankündigung
Die Journalistin Sandra Weiss ist Übersetzerin des Abends und stellt die Gastrednerin vor. Die afro-kolumbianische Menschenrechtsaktivistin Marilyn Machado Mosquera kommt aus Cauca, eine Provinz in Kolumbien, wo viele indigene Völker leben. Dort gibt es einige Bodenschätze – wie zum Beispiel Gold – wodurch Plünderer angezogen und Lebensräume zerstört werden. Alberto Acosta, Ökonom und Visionär aus Ecuador, spricht über Ängste der Gegenwart, Kriege und Herausforderungen der Zukunft, die neue Perspektiven fordern. Wir sollten unseren Blick auf Entwicklungen in anderen Ländern richten, emanzipatorische Stimmen anhören und die Rechte der Natur anerkennen, um gemeinsam eine gerechte Zukunft gestalten zu können. Alberto Acosta ist Co-Autor des Buches Pluriverse – A Post-Development Dictionary, welchem die Veranstaltung ihren Titel zu verdanken hat. Dieses Jahr soll das Buch endlich auch auf Deutsch erscheinen, kündigt Alberto Acosta an.
Lautes Trampeln und ein fliegendes Einhorn
Lautes Trampeln unterbricht das Gespräch auf der Bühne. Ein kleines Mädchen rennt durch den Saal. Das sorgt natürlich für Aufmerksamkeit und leichtes Ärgernis der Mutter. Aber wer weiß, vielleicht wollte die Kleine damit nur die Wichtigkeit der Thematik unterstreichen. Während das Mädchen weiter rennt, erzählt Marilyn Machado Mosquera auf Spanisch von ihrer Heimat. Von ihrer Verbundenheit mit der Natur und ihre besonders enge Beziehung zum Wasser, den Flüssen in Kolumbien. Die Natur leidet unter dem Kapitalismus, der Ölforderung und den Zuckerfabriken. Lebensräume werden zerstört, Menschen verhungern und verdursten, es muss gehandelt werden. Marilyn setzt sich für Rechte der Umwelt und der afro-kolumbianischen Gemeinschaft ein. In der Pause gibt es die Möglichkeit etwas zu trinken, sich auszutauschen und sich die Stände von FairStrickt, Grüner Faden, Fridays for Future und Grupo Sal anzusehen.
Nach der Pause scheint die Stimmung vermehrt aufgelockert. Als die Musik von Grupo Sal erklingt, beginnen Leute in den hinteren Reihen zu tanzen. Das vorher bereits aktiv gewordene kleine Mädchen wirft im Takt ihr Kuscheltier- ein Einhorn – in die Luft. Lässt es auf den Boden fallen, hebt es auf und wirft es wieder hoch, um es erneut zu fangen. Das sorgt für vereinzelnde Lacher im Publikum. Auf diesen lustigen Moment folgt ein ernstes Thema.
Widerstand in Kolumbien
Marilyn erzählt sichtlich ergriffen von der täglichen Gefahr als Aktivistin in Kolumbien. Die Elite sei gegen den Widerstand, viele Menschenrechtler*innen und Umweltschützer*innen werden bedroht oder ermordet. Trotz allem hat Marilyn große Hoffnungen für die Zukunft ihrer Heimat. Zum ersten Mal wurde ein linker Präsident, Gustavo Pedro gewählt, der sich für Frieden einsetzen will. Die Freude und die Feier an dem Tag des Wahlergebnisses, sei so groß gewesen, als hätten sie eine Fußball-WM gewonnen. Das erweckt ein Schmunzeln bei der Übersetzung von Sandra Weiss. Außerdem ist Marilyn sichtlich erfreut darüber, dass Gustavo Pedro es bereits geschafft habe, die Steuern der Reichen anzuheben, ein wichtiger Schritt für die sozialen Ungleichheiten. Dies führt auch beim Publikum zu Applaus.
Aufruf zum Schutz der Flüsse
Als weiterer Erfolg der aktivistischen Arbeit, erzählt Marilyn von dem Fluss Río Atrato. Eine gemeinschaftliche Schutzklage von Afrokolumbianern und Indigenen wurde vom Verfassungsgericht anerkannt. Der Fluss und seine Umgebung wird vor Bergbauarbeiten und Abholzung geschützt.
Gegen Ende der Veranstaltung darf das Publikum Fragen an Marilyn stellen. Die erste Frage ist besonders emotional, es geht um den Fluss Bruno und die derzeitige Situation diesbezüglich, in Anbetracht des kursierenden Hashtags #freeBruno. Marilyn spricht von den dramatischen Zuständen dort. Durch Kohlebergmienen gibt es kaum Wasser und Kinder verhungern. Die Aktivistin hat Tränen in den Augen. Die Region zählt zu den sogenannten ‚Opferzonen‘, sie wurde dem kapitalistischen Fortschritt geopfert. Die Miene und das errichtete Dorf für die Arbeiter rauben den Indigenen das Wasser. Trotz dem Ernst der Lage, endet Marilyns Antwort hoffungsvoll, denn die Widerständler*innen würden sich nicht unterkriegen lassen und tolle Arbeit leisten.
Freudiger Ausklang
Zum Abschluss spielt Grupo Sal noch ein Lied, das Marilyn besonders gefällt. Sie meint, sie tanzt, aber nur wenn alle tanzen. So entsteht ein kleiner Abschlusstanz auf der Bühne, auch ein paar Leute aus dem Publikum trauen sich nach vorne. Darunter die Mutter mit dem kleinen Mädchen, welches schon den ganzen Abend nicht stillsitzen kann. Marilyn tanzt und strahlt mit ihr um die Wette. Das zaubert einigen ein Lächeln ins Gesicht, ein wirklich schöner Ausklang des Abends.
Auf dem Heimweg ist mir ein Zitat besonders im Kopf geblieben:
„Wir müssen einsehen, dass wir Natur sind.
Nicht etwas Besseres als die Natur, sondern einfach nur ein Teil von ihr“
Marilyn Machado Mosquera (deutsche Übersetzung von Sandra Weiss)
Bildrechte: © Fiona Kunz