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The Outrun: Zwischen Eskapismus und Stillstand

Sucht, Einsamkeit und der Wunsch, nie nüchtern zu sein – diese Themen stehen im Mittelpunkt von Nora Fingscheidts neuem Drama The Outrun. Der Film erzählt die Geschichte der jungen Rona, die nach einem Jahrzehnt voller Alkohol-Eskapaden in London und einer Entzugstherapie auf die schottischen Orkney-Inseln ihrer Kindheit zurückkehrt. Eine Filmkritik von Emily Rehmet.

Nach ihrem Spielfilmdebüt Systemsprenger (2019), das die Geschichte der neunjährigen Bernadette erzählt, die durch alle Raster des Jugendhilfesystems fällt, und der Netflix-Produktion The Unforgivable (2021) mit Sandra Bullock, bleibt die 1983 in Braunschweig geborene Drehbuchautorin Nora Fingscheidt konsequent: Sie verzichtet auf jede Form verklärender Schönfärberei, umgeht Klischees und widersetzt sich stringent der Erzeugung von Mitleid.

Storyline

Zu Beginn sieht man die kleine Rona (Freya Evans), die am Strand spielt, begleitet von surrealen Unterwasseraufnahmen und den Stimmen einer Frau, die längst kein Kind mehr ist. Die Seehunde am Meeresboden werden dabei zum Symbol für das Ursprüngliche, nach dem Rona so verzweifelt sucht. Die Gegenwart: Rona, deutlich betrunken, wird aus einer Bar geworfen und weigert sich, mit dem Trinken aufzuhören. Am nächsten Tag finden wir sie mit einem Bluterguss im Gesicht, während sie einer Dame gegenübersitzt, die sie nach ihrer Familie und psychischen Erkrankungen fragt. Rona ist arbeitslos, hat einen Biologiemaster und scheint nicht anwesend. Ihre Eltern leben getrennt: Ihre Mutter (Saskia Reeves) ist religiös, ihr Vater (Stephen Dillane) hat eine bipolare Störung und züchtet Schafe. 

Zuschauer*innen erleben das Geschehen fast orientierungslos, da die Handlung auf einen chronologischen Verlauf verzichtet und von Sprüngen geprägt ist. Die einzige Konstante sind Ronas wechselnde Haarfarben – von blau bis rot –, die für Raum und Zeit stehen.

Das Spiel mit den Gegensätzen

Was ins Auge springt: Die Handlung, basierend auf dem autobiografischen Bestseller Nachtlichter (2016) von Amy Liptrot, rückt gezielt Gegensätze in den Mittelpunkt: die Flucht in das pulsierende, alkoholdurchtränkte Londoner Nachtleben und die Einsamkeit der wilden, rauen Natur; die scheinbar harmonischen Szenen mit Ronas Partner Daynin und der ewige Drang zur Selbstzerstörung; der Wunsch    nach Nähe und zugleich das Bedürfnis, nichts mehr spüren zu wollen. Diese Zwiespältigkeit verkörpert das ständige Ringen um Balance zwischen Flucht und der ewigen Suche nach Halt. 

Die Rolle der Natur

Der Film spielt mit den Naturgewalten und nutzt sie zugleich als Spiegel für Ronas Emotionen. Wenn es gewittert, spiegelt sich darin das innere Gewitter, das einen bis in die Magengrube erschüttert. 

Mein Körper ist ein Kontinent. Wenn ich blinzle, flackert die Sonne, mein Atem treibt die Wolken über den Himmel und die Wellen rollen im Takt meines schlagenden Herzens ans Ufer.
– Rona 

Die Sucht

Die Sucht ist Ronas ständiger Begleiter und dient als Schutz vor Anforderungen, die an Sie gestellt werden. Sie zieht sich durch die Handlung und fungiert als Blockade zwischen Momenten der emotionalen Nähe. Weder Rona noch ihr Vater werden auf ihre psychische Erkrankung reduziert; ihre schillernde Facette kommt genauso zur Geltung wie die nüchtern dargestellte Verzweiflung. 

Kritik

The Outrun ist außergewöhnlich in jeder Hinsicht: Er ist mehr als eine bloße Suchtstudie oder ein Film über Familienkonflikte. Fingerscheidts glanzvolle Inszenierung vermittelt eindringlich, wie sich Kontrollverlust anfühlt und wie die Sucht einen unerbittlich an die Hand nimmt, ohne Rücksicht auf Andere zu nehmen. Die besondere Rolle der Natur rahmt das Drama auf eindrucksvolle Weise ein.
Allerdings erschweren die häufigen Zeit Sprünge und Szenenwechsel den Zuschauer*innen, sich in Ronas wechselhaftem Leben zurechtzufinden. Es fehlt an Chronologie und Klarheit. 
Abseits dieser Kritikpunkte widmet sich der Film aber einem wichtigen Aspekt: dem Akzeptieren des eigenen Scheiterns und der eigenen Entscheidung, heilen zu wollen. „Es wird nie einfach. Es wird nur weniger schwer.“ (Bouncer Dave)

Kupferblau-Punkte: 7/10

Beitragsbild: Unsplash.

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