Politik

Krisen durch Bindung bewältigen

Vor Weihnachten stellt die Universität die Lehre eine Woche lang auf online um. Unsere Redakteurin hat damit ein Problem und reflektiert über einen gesellschaftlichen Wandel zur digitalen Bindungslosigkeit hin.

Am 17. Oktober sandte die neue Rektorin Carla Pollmann eine E-Mail an die Studierenden, in der sie ankündigte, dass in der Woche vom 19. bis zum 23. Dezember die Lehrveranstaltungen online stattfinden sollen. Eine frühe Ankündigung, immerhin, wie auch in der letzten Sitzung des Studierendenrats gelobt wurde. Damit hat es sich allerdings schon mit den positiven Aspekten dieser Nachricht.

Eine Woche lang Online-Veranstaltungen besuchen, das ist ein Opfer, das die Studierenden erbringen können. Doch die Angst besteht, dass aus dieser einen Woche mehrere Wochen werden könnten, und die Frage stellt sich, was diese Maßnahme bringt.

Die Schuld der Regierung?

Der Grund für die Schließung ist, dass die Universität ihre Energiekosten selbst tragen muss, und dass sie von der Regierung verpflichtet wurde, ihren Energieverbrauch um 20 Prozent zu senken. Durch die Schließung nun spart niemand Strom – außer der Universität. Ohne wissenschaftliche Recherchen angestellt zu haben, sagt mir der logische Menschenverstand, dass vielleicht sogar noch mehr Strom verbraucht wird, wenn alle Studierenden ihr Zimmer in dieser Zeit selbst heizen, und zusätzlich ihren Laptop benutzen, um an den Seminaren und Vorlesungen teilzunehmen, anstatt gemeinsam in einem großen Hörsaal zu sitzen.

Vielleicht muss sich die Kritik hier auch eher an den Staat richten als an die Uni: Der Staat sichert der Universität so unzureichende Hilfen zu, dass diese sich gezwungen sieht, Maßnahmen zu ergreifen, durch welche insgesamt mutmaßlich sogar mehr Energie verbraucht wird als weniger. Zusätzlich werden die Stromkosten auf Studierende abgewälzt, welche bei finanziellen Problemen allerdings auch die Bibliothek aufsuchen könnten, um von dort aus online an ihren Veranstaltungen teilzunehmen.

Erste Reaktion auf Krisen: Präsenz-Treffen absagen

Möglicherweise will ich meine Kritik aber auch gar nicht an eine bestimmte Institution richten, sondern eher vor einem gesamtgesellschaftlichen Wandel warnen. Schon vor einigen Wochen, als ich die Ankündigung las, die Weihnachtsmärkte sollten dieses Jahr „trotz Pandemie und Energiekrise“ stattfinden, wähnte ich nichts Gutes. Ich fragte mich: Wie kann es sein, dass wir nun bei jeder Krise als erstes daran denken, ob man nicht irgendwelche Veranstaltungen ausfallen lassen kann? Natürlich, die Corona-Pandemie war ein anderer Fall. Physische Distanz war notwendig, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Das Absagen von Veranstaltungen – oder eine Umstellung auf Online-Veranstaltungen – ist allerdings bei Weitem nicht die einzige Maßnahme, die man gegen die Energiekrise ergreifen kann.

Ich halte diesen Umgang mit Krisen deswegen für so katastrophal, weil er uns die Möglichkeit auf eine Bewältigung von Krisen langfristig verbaut. In den nächsten Jahren werden durch den Klimawandel noch viele Krisen auf uns zukommen, und diese Krisen werden wir nur bewältigen können, wenn wir Bindungen zueinander aufbauen können.

Die Notwendigkeit des gemeinsamen Denkens

Veränderung kommt aus sozialen Bewegungen. Sie kommt auch durch die Beschäftigung mit Theorien und mit den eigenen Gedanken, aber der Austausch mit anderen Menschen ist ein essenzieller Teil gesellschaftlichen Engagements. Wenn wir keine anderen Menschen treffen, die sich ebenfalls eine bessere Welt wünschen, werden wir abgestumpft und deprimiert. Einsamkeit macht hoffnungslos – ich bin mir sicher, das haben die meisten von uns in den vergangenen Jahren bemerkt. Wir brauchen andere Menschen, um Leidenschaft für Theorien und Konzepte zu entwickeln. Ohne andere Menschen bleiben Ideen und Vorschläge gesichtslos und leer. Und wenn wir uns nicht in der Uni sehen können, wenn wir uns nicht kennenlernen können, können wir uns auch nicht zu sozialen Bewegungen formieren, und uns nicht für einen konstruktiven Umgang mit Krisen einsetzen. Der Moment des gemeinsamen Denkens verschwindet: Dieser euphorische Moment, wenn man mit Menschen, mit denen man sich verbunden fühlt, einen Gedanken erörtert, weiterentwickelt, auf eine ganz neue Idee kommt, und vielleicht sogar darauf, etwas Gemeinsames auf die Beine zu stellen, etwas zu erschaffen, etwas zu verändern.

Unsere Generation ist eine einsame Generation. Schon 2019, vor der Corona-Pandemie, bescheinigten Studien, dass Jugendliche sich heutzutage viel seltener in der Realität mit ihren Freund*innen treffen. Sie stellten außerdem fest, dass die Jugendlichen einsamer sind – das heißt, mit dieser Situation im Grunde unglücklich. Der Kontakt über Social Media kann den Kontakt in der Realität nicht zufriedenstellend ersetzen.

Mehr Wut, bitte!

Auch in Tübingen, direkt vor der eigenen Haustür, kann man diese Veränderung beobachten: Erstsemester-Veranstaltungen wie let’s nez oder die Blochwoche waren in diesem Jahr schlechter besucht als in vergangenen Jahren. Meiner persönlichen Erfahrung nach nehmen die meisten jungen Menschen diesen enormen gesellschaftlichen Wandel mit leichter Missbilligung hin. Es ist ärgerlich, es ist eigentlich eher schlecht, und irgendwo tief drin im Bauch hat man eine große unerfüllte Sehnsucht nach Bindung, doch man kommt auch nicht auf die Idee, wütend zu werden, oder Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Es ist nicht die Schuld der jungen Menschen, dass sie nicht auf die Idee kommen, sich zur Wehr zu setzen. Dass wir gar nicht erst auf die Idee kommen, uns über eine Veränderung der Gesellschaft zum Schlechten hin zu ärgern, ist ein Phänomen, das sich in den folgenden Jahren intensivieren wird, wenn es so weiter geht.

Selbstverständlich gibt es viele ungeklärte Fragen: Kann sich eine Gesellschaft überhaupt zum Schlechten hin verändern? Warum sollte so etwas wie ein ausschließlicher negativer Wandel stattfinden? Aus Bequemlichkeit? Oder weil irgendwer, der Macht hat, davon profitiert? Aber wer sollte das in diesem Fall sein?

Haben introvertierte Menschen, oder Menschen mit sozialen Ängsten, auch noch andere Gründe als Bequemlichkeit, Gutes an dem gesellschaftlichen Wandel zu finden? Und wie können wir diese Menschen in unser Engagement miteinbeziehen? Geht es vielleicht nicht darum, den Prä-Digitalisierungszustand herzustellen, sondern einen ganz neuen Zustand, in dem die Bedürfnisse nach Zeit allein oder Zeit Zuhause des Einzelnen mehr respektiert werden? Einen Zustand, in dem es bessere psychische Versorgung gibt, sodass auch Menschen mit sozialen Ängsten ihr Bedürfnis nach Bindung gut befriedigen können?

Vielleicht sollten wir über all das mehr sprechen. Und vielleicht sollten wir alle ein bisschen lauter und wütender werden, wenn wir das Gefühl haben, dass uns die Möglichkeit, Bindungen aufzubauen, genommen wird.

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