Doris Dörrie – ein Name eilt der Person voraus. Bereits vor ihrem Auftritt bei der 17. Tübinger Mediendozentur weiß man, wen man vor sich stehen hat. Man kennt sie, man kennt ihr Thema: Erzählungen. Jetzt noch jemanden zu überraschen, kann das klappen? Wenn, dann nur mit radikalen Mitteln. So begrüßt nicht Dörrie das Publikum, sondern Parker – Petra Parker. Ein Kommentar unseres Redakteurs.
„Warum steht die Dame da jetzt im Spider-Woman-Kostüm? […] Ich wollte Ihre Neugier wecken, denn so bekomme ich Macht über Sie. Die Macht, eine Geschichte zu erzählen.“
Doris Dörrie
Nahbar und unverfroren ehrlich tritt sie auf. Maskiert, aber dennoch nackt. Für alle einsehbar, weil sie gelesen werden will. Denn Petra Parker erzählt eine Geschichte. Aber wessen Geschichte? Petras oder Doris‘? Was davon ist wahr? Was ist gelogen? Dörries Antwort: „Alles ist Fiktion. Und alles ist eine Geschichte. […] Was braucht denn eine Geschichte? – Ein Problem!“
Einen ausführlichen Bericht zur Mediendozentur von Hagen Wagner findet ihr bereits hier. Dieser Artikel hat ein persönliches Hühnchen zu rupfen.
Und hier ist mein Problem: Dörrie spricht vom „Froschkönig“. Erst, wenn die Prinzessin den Frosch küsst, bekommt sie ihren Prinzen. Die Grimm‘sche Version erzählt aber nicht von einer unterwürfigen Prinzessin, die sich einen Froschkönig schönredet, sondern klatscht ihn an die Wand! Hier, Frau Dörrie, werfe ich – der Redakteur dieses Artikels – Sie gegen die Wand. Denn so widerwillig, wie der Froschkönig an den Esstisch gelassen wird, ließt man ihr 2019 erschienenes Buch ‚Leben, Schreiben, Atmen‘. Oder auch:
Lesen, schreien, tief durchatmen
Wo sich ein Robert McKee oder ein John Truby auf die Vermittlung von Fachwissen konzentriert und eine K. M. Weiland oder eine Jessica Brody dazu noch Aufgaben zur Selbstüberprüfung mitgibt, dreht Dörrie den Spieß um: Ohne Informationen zu vermitteln, stellt sie die Fragen nur um selbst darauf zu antworten.
An sich ist an ihren Aufgabenstellungen aber nichts auszusetzen. Schreibenden werden wenige Impressionen mitgegeben (über Kindheit, Jugend, Trauer, Glück etc.) zu denen sie einen skrupellosen Textentwurf anfertigen sollen – freies Assoziieren. Das bedeutet: Ohne Rücksicht auf Rechtschreibung und Zeichensetzung jeden Gedanken direkt aufs Papier zu bringen. Eine Aufwärmübung für kreative Muskeln, ehe die richtige Arbeit beginnt. Dörrie jedoch liefert in ihrem Buch zu jeder Aufgabe eine ausformulierte, fehlerkorrigierte, dramaturgisch angepasste Musterlösung, mit der sich Lesende sofort vergleichen. Anders würden auch nicht genügend Seiten für ein Buch zusammenkommen.
Es gibt keine Anhaltspunkte, worauf man beim Arbeiten achten sollte. Keine Tipps, keine Regeln, somit kein Lerneffekt! Das ließe sich vergleichen mit einer Köchin, die eine Zutatenliste vorschlägt und im nächsten Moment ihre fertig gekochte Mahlzeit verspeist. Ein Rezept muss man sich selbst erarbeiten – oder andere Kochbücher zu Rate ziehen.
Diese Musterlösung demonstrierte sie auch während ihrer Dozentur: „Ich habe einfach nur dieses Gewitter in meinem Kopf mitgeschrieben. Ich habe mir keine Mühe gegeben, gar nichts, sondern ich habe dieses ständige Gewitter, diesen Film, der da läuft, einfach nur mitgeschrieben. […] Alles, was ich bisher erzählt habe, basiert auf gar nichts. Das ist alles schiere Annahme von mir.“ Eine weltbekannte Regisseurin verlässt sich auf schiere Annahme? Ein Begriff, vor dem Studierende und Dozierende die Zähne fletschen. Wo sind die Zahlen, Daten, Fakten? Was davon kommt in der Klausur dran? Oder will uns Frau Dörrie damit sagen, dass es nicht das Fachwissen ist, was sie berühmt gemacht hat, sondern die Rückbesinnung auf ihre Erfahrungswelt? Denn das ist es, was ihre Übungen zu entfesseln versprechen.
Du hast bereits alles, was du brauchst, um anzufangen!
Denn damit fängt alles an: Nichts. Vor dem Urknall war das Nichts. Und vor dem ersten Wort ist die Seite weiß. Erzählen kann durch Theorie trainiert werden, doch die Grundlage besteht schon längst. Wie sich Menschen ihre ureigenen Geschichten erzählen, zeigt Dörrie am „Strongman Syndrome“, einem Phänomen, das Frauen nicht unbekannt ist, aber wesentlich häufiger bei Männern auftritt. Hitler, Stalin, Pol Pot und nicht zuletzt Putin erzählten sich selbst Geschichten, in denen sie die wahren Helden sind, ihre Feinde zur Strecke bringen, recht haben.
Ertappt… Leide ich etwa unter dem Strongman Syndrome, wenn ich Probleme mit Doris Dörries Worten habe? Probleme bedeuten Veränderung. Veränderung bedeutet Plot – bedeutet Monomythos; die Geschichte, die wir von uns selbst erzählen. So besagt mein Monomythos Folgendes: „Heute bin ich Journalist im Studierendenmagazin Kupferblau. Morgen werde ich Science-Fantasy-Autor. Und übermorgen stoße ich die großen Namen vom Thron, die mir das Sonnenlicht stehlen.“ Doch um da hinzukommen, muss ich lernen – viel lernen – von Dörrie lernen, dass ich bereits mehr weiß, als ich zu wissen glaube.
Wenn ich diesen Artikel schreibe, bin ich der Held meiner eigenen Geschichte. Doris Dörrie ist meine Severina Snape. Sie ist kompetent, erfahren, erfolgreich, dennoch habe ich sie verachtet. Ich war der Protagonist meines Monomythos, Dörrie meine Antagonistin. Doch kam ich nicht umher, ihre Menschlichkeit zu erkennen. Zu erkennen, dass Größe nicht aus Namen, Titeln und Prophezeiungen entspringt, sondern aus dem eigenen Inneren.
Ich danke, Frau Dörrie.
„Das ist meine Jobdescription, by the way. Das mache ich beruflich.
Doris Dörrie
Ich spiele, lüge und erzähle.“
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Fotos: Mathias Bothor, Hagen Wagner, Eberhard Karls Universität Tübingen