Kultur im Katastrophenmodus: Das 18. Internationale Pianistenfestival der Stadt Tübingen fand am Sonntag, den 16.05.2021 im Festsaal der Universität statt. Allerdings ohne anwesendes Publikum, da das Konzert online gestreamt wurde. Unsere Redakteurin war dabei und berichtet euch über diesen ungewöhnlichen, aber lohnenden Abend.
Alljährlich findet in Tübingen das Internationale Pianistenfestival statt, ausgetragen von der Museumsgesellschaft Tübingen e. V. und vom Kulturreferat der Eberhard Karls Universität. Letztes Jahr musste das Festival aufgrund von Corona leider abgesagt werden. Dieses Jahr fand es wieder statt – wenn auch anders als erwartet: Geplant war ein zweitägiges Festival mit fünf verschiedenen nationalen und internationalen Pianisten. Aufgrund der Einreisebeschränkungen wurde jedoch umdisponiert. So wurde aus zwei Abenden nur einer. Und auf der Bühne standen lediglich zwei Pianisten: Philipp Scheucher aus Österreich und Emanuel Roch aus Deutschland. Doch das tat dem Abend keinen Abbruch – der Hörgenuss kam nicht zu kurz.
Erlesene Musikauswahl
Auf dem Programm standen einige der größten Klavierkomponisten: Beethoven, Liszt und Chopin. Philipp Scheucher spielte zunächst von Beethoven 24 Variationen über die Ariette „Venni Amore“, von Vincenzo Righini “D-Dur WoO 65” und endete mit der Ballade “Nr. 2 h-Moll” von Franz Liszt. Dieses Stück war mir selbst noch unbekannt, daher war ich umso mehr von seiner Ausdruckkraft und Scheuchers Spiel begeistert.
Emanuel Roch hatte sich ebenfalls für Beethoven entschieden und gab die Klaviersonate „Appassionata“ zum Besten, eines seiner bekanntesten Klavierwerke. Lenin soll einmal über die Sonate gesagt haben:
„Ich kenne nichts Schöneres als die Appassionata und könnte sie jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik! Ich denke immer mit Stolz: Seht einmal, solche Wunderwerke können die Menschen schaffen!“
Über Lenins politische Position kann man sich streiten, aber Musikgeschmack hatte er. Das Konzert ließ Roch mit Chopin ausklingen: Zunächst spielte er eine Ballade und als krönenden Abschluss die “Nocturne Nr. 1 b-moll op. 9”. Ein Musikstück, das aufgrund seiner schwermütigen und vielschichtigen Schönheit auch von Menschen geliebt wird, die mit klassischer Musik eher wenig am Hut haben. Die Auswahl der Stücke war damit insgesamt mehr als gelungen.
Ein Konzert im Livestream: Lohnt sich das?
Zugegeben, die Vorstellung ein klassisches Konzert vor dem eigenen Laptop zu verfolgen, hat etwas Gewöhnungsbedürftiges. Schon im Vorfeld hatte ich mich gefragt, ob die zarten Klänge von Chopins Nocturne überhaupt durch meine wenig professionellen Laptop-Lautsprecher dringen würden. Doch ich wurde positiv überrascht! Keine Frage, der Klang war nicht optimal, aber Musikgenuss war definitiv gegeben.
Mit der Zeit fielen mir weitere Vorteile auf, die das Online-Konzert mit sich brachte: Spontan Niesen? Kein Problem, denn es hört ja niemand! Zudem war es schön, während des Konzerts entspannt ein Glas Wein trinken zu können. Auch der Gang zur Toilette gestaltete sich wesentlich angenehmer. Im Konzertsaal muss man sich sonst immer an mindestens zehn Leuten aus der eigenen Reihe vorbeiquetschen und deren missmutigen Blicke ertragen.
Doch ich möchte auch keine Lobeshymne auf Musikveranstaltungen im Online-Format schreiben, denn die nachteiligen Aspekte lassen nicht lange auf sich warten: Die Atmosphäre ist einfach nicht dieselbe. Der Besuch eines klassischen Konzerts bedeutet für mich, elegante Garderobe aus dem Schrank zu holen und sich schick zu machen. Allein dadurch steigert sich die Vorfreude auf den Abend. Dann das Eintreten in den beeindruckenden Konzertsaal: Der staunende Blick schweift umher und ist geblendet von der bestechenden Schönheit des Raums. Bei der Home-Edition des Pianistenfestivals sah die Sache etwas anders aus: Ich saß in meinen bunt geringelten Wollsocken vor dem chaotischen Schreibtisch, an dem ich ohnehin den ganzen Tag gesessen hatte. Eventcharakter stelle ich mir anders vor.
Musik geht immer
Schlussendlich kann ich jedoch feststellen, dass sich der Besuch des Konzerts definitiv gelohnt hat. Der Gedanke, dass in diesem Moment 260 Menschen zuhause vor ihrem Laptop sitzen und mit mir gemeinsam den virtuosen Klängen von Beethoven lauschen, hat letzten Endes auch etwas Verbindendes. Dank des Livestreams konnte man sich − ohne großen Aufwand − anderthalb Stunden von großartig gespielter Klaviermusik verzaubern lassen. Leider ist das Konzert nicht zum Nachhören verfügbar. Aber vielleicht habt ihr nun auch Lust bekommen, bequem von eurem Sofa aus ein Konzert im Livestream zu verfolgen. Die Kulturschaffenden werden sich über eure Unterstützung freuen!
Beitragsbild und Screenshots: Laetitia Gloning