Am 30. März haben wir den ersten Teil der Artikelreihe Evergreens: Die Welt der Bücher veröffentlicht. Die Kupferblau traf sich mit insgesamt sechs Studierenden verschiedener Fachrichtungen, um ihre persönlichen Evergreens in der Welt der Bücher zu erfragen. Die Ergebnisse waren vielseitig – von Baldwin bis Nietzsche.
Auch im zweiten Teil dieser Reihe warten spannende Buchempfehlungen auf euch.
Evergreen [ˈɛvɐɡʁiːn] (n): Never going out of fashion, always fresh and popular.
Krieg: Wie Konflikte die Menschheit prägten,
Der Selbstmord & Die feinen Unterschiede
Thomas (24) studiert Politikwissenschaft im Hauptfach und Soziologie im Nebenfach. Er empfiehlt Krieg: Wie Konflikte die Menschheit prägten von Margaret MacMillan, Der Selbstmord von Émile Durkheim und Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede.
Kupferblau: Herz oder Kopf?
Thomas: Kopf.
Kupferblau: Tee oder Kaffee?
Thomas: Tee.
Kupferblau: Wenn du dir eine Superkraft aussuchen könntest, welche wäre das?
Thomas: Ich wäre gerne in der Lage, Zeit zurückdrehen zu können, um einfach mehr davon zu haben.
Kupferblau: Was bedeutet Lesen für dich?
Thomas: Lesen bedeutet, in eine andere Gedankenwelt abzutauchen. Aber nicht nur im fiktiven Sinne, sondern auch, um die Gedanken eines anderen Menschen nachvollziehen zu können auf eine Art und Weise, wie man es sonst eigentlich nicht schafft.
Kupferblau: Was sind deine drei persönlichen Evergreens?
Thomas: Mein erstes Buch heißt Krieg: Wie Konflikte die Menschheit prägten von Margaret MacMillan, das ist eine Historikerin. Ich studiere Politikwissenschaft und viele Menschen vergessen manchmal, dass die Auseinandersetzung mit bewaffneten Konflikten auch Teil der Politikwissenschaften ist. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert, denn es ist ein anschauliches Beispiel dafür, welch große Rolle Konflikte in der Geschichte der Menschheit gespielt haben und wie eine Gesellschaft auch davon geprägt wird. In unserer weitestgehend befriedeten Gesellschaft wird dieser Themenbereich oft ignoriert, finde ich – manche denken, dieses Thema sei hier bereits überwunden. Ich finde, dass es ein starkes Unverständnis zum Thema Krieg gibt. Man ist sich einig, dass Krieg schlecht ist, aber was Ursachen und auch vielleicht Möglichkeiten sein könnten, wird ignoriert. Wie unterschiedlich verschiedene Menschen Krieg wahrnehmen, ist auch Teil des Buches und absolut faszinierend. MacMillan wartet mit Beispielen verschiedener Menschen aus unterschiedlichen Epochen auf, die Krieg sogar als etwas sinnstiftendes wahrnehmen, nicht als rein negativ. Das Buch hilft, zu begreifen, wie Kriege möglich werden. Darüber hinaus zeigt es auch in vielen anderen Bereichen, wie Kriege, Konflikte oder auch beispielsweise Nachkriegsordnung unsere Politik prägen – ein rundum spannendes Buch und eine gut geschriebene Annäherung an diesen Themenkomplex, auch für Menschen, die sich mit Politik oder Krieg bisher noch nicht befasst haben.
Mein zweites Buch ist, sehr dramatischer Titel, Der Selbstmord von Émile Durkheim. Durkheim war einer der Gründerväter der modernen Soziologie und seine Forschung war vor allem auch von seinem Erkennen geprägt, dass viele Phänomene, die wir Menschen erleben, auf die Struktur unserer Gesellschaft zurückzuführen sind. Er war der Meinung, dass gewisse alltägliche Dinge sehr stark von gesellschaftlichen Strukturen beeinflusst werden und wir uns nicht unbedingt dagegen wehren können, manchmal sogar nicht einmal beeinflussen können, was in uns passiert. In diesem Buch beschäftigt er sich mit dem Phänomen Selbstmord. Ich habe den Eindruck, dass in unserer Gesellschaft Dinge wie Selbstmord oder psychische Krankheiten oft als individuelle Probleme angesehen werden – im Sinne von „Mental Health Awareness”, seid euch dessen bewusst, dann wird das schon. Das halte ich für zu verkürzt gedacht und anhand dieses Buchs sieht man auch, wieso. Durkheim weist nach, dass Selbstmord nicht nur ein individuelles Phänomen ist. Inwieweit Selbstmordraten steigen oder sinken, wird von der Gesellschaft beeinflusst. Er arbeitet auf, dass, je vereinzelter Menschen leben, je einsamer sie sind, die Selbstmordraten steigen – das passiert dann zum Beispiel durch Auflösung bestehender sozialer Strukturen, die Menschen oft einsam zurücklassen. Ich denke, das ist ein wichtiges Buch, weil wir zurzeit wieder in einer Phase sind, in der Menschen eher vereinzeln und in der Individualismus großgeschrieben und von Menschen erwartet wird, sich vor allem um sich selbst zu kümmern.
Das dritte Buch, das ich mitgebracht habe, heißt Die feinen Unterschiede von Pierre Bourdieu. Bourdieu, ebenfalls ein Soziologe, hat einen sehr anstrengenden Schreibstil, das möchte ich gerne noch vorausschicken. Dieses Buch handelt von sozialen Ungleichheiten und von der Frage, wie und wieso sich diese von einer Generation in die Nächste reproduziert. Bourdieu hat sich stark mit der Frage auseinandergesetzt, wieso Menschen Chancen und Möglichkeiten, die sie formell hätten, oftmals nicht nutzen. Er arbeitet heraus, dass Menschen stark von ihrem sozialen Umfeld geprägt werden. Nicht nur in dem Sinne, dass man von den eigenen verfügbaren Ressourcen abhängig ist, sondern, dass sogar die eigene Vorstellungswelt durch das soziale Umfeld geprägt wird. Bourdieu schaut sich beispielsweise den persönlichen Geschmack von Menschen an: Was machen sie in ihrer Freizeit, was lesen sie, welche Musik hören sie. Und er stellt fest, dass Geschmack sehr stark mit der sozialen Herkunft zusammenhängt. Das wirkt sehr banal, ist aber durchaus interessant. Die feinen Unterschiede ist eine Sozialstudie aus dem Frankreich der späten Siebziger Jahre, durch die nachgewiesen wird, dass Aspekte der menschlichen Persönlichkeit, die wir für individuell und selbstgewählt halten, das in vielen Fällen gar nicht sind.
Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig.
Ernst Reinhold Hauschka
Born a Crime, The Midnight Library
& Knochen lügen nie
Michelle (21) studiert Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie und Archäologie des Mittelalters im Hauptfach und Paläoanthropologie im Nebenfach. Sie empfiehlt Born a Crime von Trevor Noah, Matt Haigs Midnighty Library und Knochen lügen nie von Kathy Reichs.
Kupferblau: Herz oder Kopf?
Michelle: Definitiv Kopf – ich überdenke alles und treffe Entscheidungen nicht einfach aus dem Bauch heraus. Ich kenne gerne alle Fakten.
Kupferblau:Tee oder Kaffee?
Michelle: Tee, gerne grünen oder Kräutertee.
Kupferblau: Wenn du dir eine Superkraft aussuchen könntest, welche wäre das? Michelle: Es gibt so viele: Fliegen, Telepathie, Telekinese, da fällt es schwer, sich festzulegen. Aber ich glaube, das Beste ist, Wissen anzusammeln. Darum wäre meine Superkraft, ganz, ganz viel zu wissen.
Kupferblau: Was bedeutet Lesen für dich?
Michelle: Ich habe schon immer sehr gerne gelesen und als ich das noch nicht selber konnte, haben meine Eltern mir vorgelesen. Man kann in eine andere Welt abtauchen und das finde ich toll. Am Wochenende, nach einer anstrengenden Woche in der Schule, habe ich dann ein Buch aufgemacht und das auch komplett durchgelesen. Und da war ich dann wirklich für einen Tag nicht da, ich war in einem Buch. Ich finde es auch schön, dass man von jedem Buch, das man liest, einen Teil mitnimmt: manchmal nimmt man neue Worte mit oder vielleicht sogar ein paar neue Gedanken. Bücher sind eine unglaublich persönliche Sache.
Kupferblau: Was sind deine drei persönlichen Evergreens?
Michelle: Mein erstes Buch heißt Born a Crime von Trevor Noah. Ich bin durch die Daily Show auf Trevor Noah gekommen und fand ihn super witzig – wer ihn nicht kennt, sollte sich das gerne mal auf YouTube anschauen. Dieses Buch ist eine Biografie und man lernt viel über die Umstände, in denen der Autor aufwuchs, viel über ihn als Person. Es gibt ein paar Szenen in dem Buch, über die ich immer noch nachdenke. Es ist unglaublich, was andere Menschen so erleben und die Charaktere, die Trevor Noah vorstellt, sind interessant und sympathisch. Definitiv empfehlenswert.
The Midnight Library von Matt Haig habe ich vor ein paar Wochen gekauft, kurz bevor ich nach Spanien zu einer Grabung gefahren bin. Es hat mich im Laden direkt angesprochen. Angenehm ist, dass nicht unglaublich viel Action oder Crime oder dergleichen passiert, es ist weniger ein aktives Buch, sondern erinnert an eine Serie, die man im Hintergrund laufen lassen kann – einfach angenehm. Nach dem Lesen des Buchs sieht man alles ein bisschen anders, finde ich. Die Protagonistin bringt sich um und diese Midnight Library kommt dann zu ihr und eröffnet ihr die Möglichkeit, verschiedene Leben auszuprobieren, die sie hätte haben können. Ich bin zwar eine sehr rationale Person, aber doch manchmal eine Träumerin. Und oft erwische ich mich dabei, wie ich denke, dass meine Träume vielleicht einfach andere Realität(en) sind. The Midnight Library erinnert an dieses Gefühl. Das Buch hat aufgrund des Themas schon eine gewisse Schwere, aber es drückt einen nicht nieder, sondern eröffnet neue Perspektiven.
Mein drittes Buch, Knochen lügen nie, ist von Kathy Reichs. Ich habe früher die Serie Bones geschaut, zusammen mit meiner Mama. Die fand ich als Teenagerin super spannend und interessant, weil ich mich auch da schon für Anthropologie, forensische Anthropologie und dergleichen interessiert habe. Bones wird in Zusammenarbeit mit Kathy Reichs produziert, es ist zwar keine Verfilmung ihrer Romane, aber daran angelehnt und dadurch inspiriert. Durch Kathy Reichs habe ich erstmals verstanden, dass diese Jobs, die ich da im Fernsehen gesehen habe, real sind, so nach dem Motto: „Hey, das kann man ja wirklich machen, ich kann damit was anfangen.“ Knochen lügen nie war mein erstes Buch von Kathy Reichs und ich finde es echt genial. Sie ist selbst Anthropologin und befasst sich in diesem Buch mit Osteologie und forensischer Anthropologie. Man kann es super gut lesen, weil es fachlich stimmt und es spricht eine breite Masse an Menschen an. Wer Bones gerne mag, wird auch ein paar ähnliche Personen in Kathy Reichs Büchern wiedererkennen.
Die Erfindung des Buchdrucks ist das größte Ereignis der Weltgeschichte.
Victor Hugo
Die Heiden von Kummerow, How Europe underdeveloped Africa & Spuren
Lukas (18) studiert Philosophie und Rhetorik. Er empfiehlt Die Heiden von Kummerow von Ehm Welk, How Europe underdeveloped Africa von Walter Rodney und Ernst Blochs Spuren.
Kupferblau: Herz oder Kopf?
Lukas: Kopf.
Kupferblau: Tee oder Kaffee?
Lukas: Tee.
Kupferblau: Wenn du dir eine Superkraft aussuchen könntest, welche wäre das?
Lukas: Ich würde gerne super gut hören können, denn ich liebe Musik.
Kupferblau: Was bedeutet Lesen für dich? Lukas: Vieles – einerseits kann man beim Lesen in andere Welten eintauchen und sich von Geschichten davontragen lassen. Andererseits kann man andere Blickwinkel einnehmen und dadurch Verständnis für etwas bekommen, was man vielleicht im eigenen Alltag nicht erreichen würde.
Kupferblau: Was sind deine drei persönlichen Evergreens?
Lukas: Das erste Buch, das ich mir ausgesucht habe, heißt Die Heiden von Kummerow von Ehm Welk*. Das wurde zu Nazi-Zeiten geschrieben, spielt aber noch vor dem Ersten Weltkrieg. Es geht um den jungen Martin, der in einem kleinen Dorf in Deutschland lebt. Man merkt schnell, dass das Dorf geschichtlich gesehen immer ein bisschen anders war als der Rest des Landes, speziell sozusagen. Darum heißt es auch immer: „Die Heiden von Kummerow“. Es gibt einen Pastor in dem Dorf, der versucht, alle in die Kirche zu kriegen. Das Buch besteht aus einer Sammlung von Geschichten über Martin und seine Clique. Es wird aus der Perspektive von Martin erzählt, der gerne Streiche spielt. Aber er ist vom Charakter her ein sehr gerechter Mensch und das merkt man. Er hat auch einen besten Freund, Johannes, der mit seinem Opa im Armenhaus wohnt und eher ein Außenseiter ist, aber Martin ist gut mit ihm befreundet. Martin hat auch eine Love Interest: die Pfarrers-Tochter. Das führt natürlich zu einigen Streitigkeiten. Es gibt viele Konflikte in dem Buch: Es geht um Zugehörigkeit, um Religion und Aberglaube, und auch um Widerstand und man erhält ein realistisches Bild vom Leben in dieser Zeit. Für ein Buch, das während der Nazi-Zeit geschrieben wurde, ist es sehr liberal und mich persönlich überrascht, dass es gedruckt werden durfte.
(*Ehm Welk arbeitete als Autor, Journalist und Professor und man nimmt an, dass er autobiografische Züge in Martin gelegt hat. Er distanzierte sich zeitlebens vom NS-Regime und trat 1945 in die Kommunistische Partei Deutschland ein. – Anm. d. Red.)
Mein zweites Buch habe ich im letzten Sommer gelesen: How Europe underdeveloped Africa von Walter Rodney. Ich würde es als genaue Analyse der Entwicklung des afrikanischen Kontinents beschreiben – von der Zeit bevor die ersten Europäer*innen ankamen, über die Kolonialisierung und auch darüber hinaus. Ich halte es für ein tolles Buch, weil man einen Einblick in die unterschiedlichen Regionen Afrikas und deren Entwicklung bekommt und weil man versteht, wie absurd und falsch das Argument, dass Europäer*innen Zivilisation nach Afrika gebracht haben, wirklich ist. Es mögen andere Entwicklungen dort vonstattengegangen sein als in Europa, aber die waren eben anders und nicht primitiver. Es ist ein sehr wissenschaftliches Buch, aber man spürt an einigen Stellen schon deutlich die Meinung des Autors. Rodney ist selbst aus Guyana, interessierte sich aber sehr für Afrika und war auch politisch aktiv. Er gibt im Buch unzählige Quellen an, unter denen man weiter nachforschen kann, was ich echt wichtig finde. Walter Rodney gilt heute als Vordenker und Praktiker des Black Power Movement. Er wurde durch einen von der guyanischen Armee verübten Sprengstoffanschlag getötet.
Weil ich Philosophie studiere, habe ich mir auch noch ein Buch in die Richtung überlegt. Es heißt Spuren und ist von Ernst Bloch. Das ist eine Kurzgeschichtensammlung. Blochs Schreibstil ist sehr eindrücklich, ich habe den mittlerweile so verinnerlicht, dass ich ihn aus Texten heraus erkennen kann. Die Geschichten in Spuren sind sehr verschieden voneinander, manche gehen nur über eine oder zwei Seiten, manche über zehn Seiten. Auch thematisch unterscheiden sie sich stark. In einer der Geschichten erzählt Bloch beispielsweise von einem Minen-Arbeiter, der von einem Kapitalisten dazu manipuliert wird, im Austausch für zwei Jahre Wohlstand und Nichtstun zehn Jahre für ihn in der Mine zu arbeiten. Die Geschichte endet damit, dass der Arbeiter nach einer kurzen Zeit dieser zehn Jahre zurückkehrt und den Kapitalisten erschießt. Ein paar Sätze aus dieser Geschichte waren für mich sehr eindrücklich – vor allem das Ende: „Immerhin. Der Revolver des Arbeiters ist schon sehr sympathisch.“ In einer anderen Geschichte geht es um den Sinn des Lebens: Was wollen die Menschen vom Leben und so weiter. Bloch schreibt in der Geschichte: „Faulheit und Einsamkeit sind die Kugeln links und rechts auf dem Eingang zu einem Haus, von dem viele träumen und in dem es keiner aushält.“ Es geht also um einen Kontrast zwischen dem, was man so will: Viele wollen nicht das tun, was sie jetzt auch immer tun, vielleicht lieber auf der faulen Haut liegen und gar nichts machen. Aber gleichzeitig, wenn man das dann eine Zeit lang gemacht hat, möchte man doch etwas anderes. Dieses Verhältnis wird in der Geschichte toll beschrieben.
Es kommt darauf an, einem Buch im richtigen Augenblick zu begegnen.
Hans Derendinger
Fotos: Pixabay