Wo treffen sich Musik und Informatik? Und wie kann man ein ganzes Musikstück in informatischen Codes darstellen? Diese Fragen beantwortete Professor Dr. Klaus Ostermann bei einem Gastvortrag am musikwissenschaftlichen Institut Tübingen. Unter dem Titel „Versionierung, Variantenmanagement und Abstraktion in Code, Dokumenten und Musik“ gab der Dozent für Programmiersprachen und Softwaretechniken spannende Einblicke in die Zukunft der Musikforschung.
Im Zuge der Digitalisierung breitet sich die Informatik verstärkt in andere Fachbereiche aus. Projekte ohne Mitarbeit von Informatiker*innen und informatischer Bearbeitungsweise sind oftmals kaum noch sinnvoll. Auch im Kulturbereich und gerade in Zeiten einer globalen Pandemie, wird „online“ teilweise zur einzigen Möglichkeit, um an Kultur weiterhin teilhaben zu können.
Praktischerweise ist die Musik eine Disziplin, die starke mathematische Funktionsweisen aufweist. In seinem Vortrag zeigte der Tübinger Prof. Dr. Klaus Ostermann einige interessante Parallelen in Bezug auf Abstraktion, Varianten und Coding zwischen Informatik und klassischer Musik auf.
Informatische Grundarbeitstechniken
„Variation“ ist ein Begriff, der in der Musik häufig verwendet wird: Variationen über ein Thema, Varianten der Vertonung von Texten oder der Interpretation von Musikstücken – alles nichts Neues. Doch kann man dabei, angelehnt an die Informatik, von „Variantenmanagement“ sprechen?
In diesem Fall eher nicht. Gemeint ist mit dem Begriff in der Softwaretechnik ein Verfahren der Koordinierung von gleichzeitigem Arbeiten mehrerer Personen am selben Dokument. Die dabei auftretenden Konflikte, beispielsweise dann, wenn Unterschiede bei zwei parallel bearbeiteten Versionen eines Dokuments auftreten, sollen mithilfe des Variantenmanagements gelöst werden. Das Ziel ist, die zwei unterschiedlichen Varianten auf eine endgültige Variante zu reduzieren.
Als eine bewährte Methode gilt dabei das „Mischen“: das Programm erkennt selbstständig Konflikte und meldet sie, woraufhin ein/e Mitarbeiter*in die alten sowie neuen Lösungen vergleichen und beide Versionen miteinander verknüpfen kann.
Mit dieser Versionsverwaltungstechnik von parallelen Varianten, beispielsweise über die Software „Git“, ist es also auch möglich, in der Historie eines Dokuments nachzuschauen, wer wann welchen Fehler eingebaut hat.
An dieser Stelle bietet sich die erste musikalische Überlegung an: In der Auswertung und Editierung von musikalischen Handschriften und ihren Abschriften, wäre eine derartige Nachverfolgungsmöglichkeit von Vorteil für die musikwissenschaftliche Forschung, da oftmals von alten Musikhandschriften mehrere unterschiedliche Abschriften von verschiedenen Personen auftauchen. Bei ihrer Auswertung wären solche Versionsverwaltungstechniken sicher hilfreich.
Variantenmanagement spielt in der Informatik auch im sogenannten „Domain Engineering“ eine große Rolle. Hilfreich sind dabei Produktlinien, eine Sammlung verschiedener Charakteristika oder Fähigkeiten eines Produktes, die sich in bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten gleichen, während sie sich in speziellen Zusatzeigenschaften unterscheiden. So wird es möglich, viele verschieden spezialisierte Produkte anzubieten.
Dies geschieht beinahe in allen möglichen Alltags- und Industriebereichen: ob bei der Auswahl der Ingredienzen in einem Sandwichladen oder beim Kauf eines Autos. Kombiniert man sie auf unterschiedliche Weise, entstehen verschiedene, aber ähnliche Produkte. In ein und demselben Sandwichladen ist es beispielsweise möglich, ein Vollkorn-Käse-Sandwich, aber auch ein Schinken-Gurken-Sandwich mit Weißbrot zu erwerben.
Zur Strukturierung werden sogenannte Feature Modelle entwickelt und verwendet. Sie regeln anhand der Produktlinien die Wichtigkeit der einzelnen Features: so ist es beispielsweise optional, ob ein Auto eine Sitzheizung beinhaltet, über vier Räder sollte es allerdings in jedem Fall verfügen.
Ganz ähnlich funktionieren wohl auch musikalische Kompositionsweisen. Durch verschiedene Kombinationen von Tönen entstehen neue Musikstücke. Es gibt Parodien, Verarbeitungen von bestehenden Themen und Anspielungen, Werke aus kooperativer Autorschaft mit verschiedenen Varianten und Umsetzungsweisen eines Gedankens, Variantenmanagement findet also doch in der Musik statt.
Beispielsweise wäre ein Feature-Modell zu statistischen Forschungsfragen bestimmter Formen und Werkgruppen wie der Bachschen Fuge denkbar. Die Fuge eignet sich in diesem Kontext gut als Beispiel, da sie eine Kompositionsform ist, die vergleichsweise starre Charakteristika aufweist. So setzen in den meisten Fällen zu Beginn des Stückes verschiedene Stimmen nacheinander mit der gleichen Melodie ein. Auf diese musikalische Einführung folgt ein komplexes, aber in seinem Aufbau festgelegtes System der Themenverarbeitung. Diese musikalische Gattung wurde besonders von Johann Sebastian Bach geprägt. Wie auch die meisten anderen Komponist*innen schöpfte er in seinen Kompositionen trotz der riesigen Kombinations- und Abfolgemöglichkeiten von Tönen, Tempi, Rhythmik und Harmonik, aus einem bestehenden Repertoire der Musikgeschichte – eine Art musikalische Produktlinie.
Abstraktion in Code und Musik
Nicht nur bei der Erfassung von Kompositionen bieten informatische Techniken der Musikwissenschaft vielversprechende Möglichkeiten, sondern auch bei der Analyse von Musikstücken. Als letzten größeren Punkt sprach Ostermann daher die Abstraktion an. Hier zeigte sich der musikwissenschaftliche Bezug sehr deutlich. So ist nämlich die musikalische Werkanalyse nichts anderes als stufenweise Abstraktion:
Durch Abstraktion kann eine Vermittlung der Musik auch ohne Notentext oder akustisches Signal stattfinden. Durch immer abstrakter werdende Ausformulierungen des Gehörten und Notierten in der Musik, erreicht man immer höhere Abstraktionsebenen.
Dieses Verfahren ist in der Musikwissenschaft wichtig, um ein Musikstück interpretieren zu können. So kann man bei etwas Gehörtem zunächst die Töne und Akkorde bestimmen, dann die harmonischen Stufen und so die Funktion dieses speziellen Akkordes im Zusammenhang des Musikstückes detailliert erkennen. Abstraktion und Varianten gelten dabei als zwei Seiten einer Medaille.
Ostermann zeigte an dieser Stelle die Möglichkeit, ein musikalisches Thema in Codes auszudrücken. Dazu werden die einzelnen Töne und ihre Abfolge schriftlich nacheinander in einer Programmiersprache notiert (links in der folgenden Abbildung). Arbeitet man dabei nicht mit festgelegten Tonhöhen wie c1, f2 usw., sondern beispielsweise mit Intervallen wie Terz oder Quarte, kann die Übersetzung des Codes in Musik variieren und es entsteht ein anderes Notenbild. Je genauer also die Töne durch Codes definiert werden, desto komplexere Muxsikstücke können damit produziert werden (rechts in der Abbildung):
Dies kann sowohl in der nachträglichen Analyse eines Stückes als auch bei der Musikproduktion verwendet werden. Also ist es auch möglich, mithilfe von Codes zu komponieren. Gearbeitet wird dabei in Abstraktionshierarchien, abgestuft aufgebaut nach ihrer Komplexität, wie die Abbildung darstellt: x4 zeigt ein komplexeres Notenbild als x1.
Um zur Verdeutlichung ein universelleres Beispiel zu nennen: auch das Internet ist danach aufgebaut, sodass das Öffnen einer Website erst durch einen vorherigen komplexen Aufbau von immer höheren Abstraktionsbefehlen funktioniert. Auch diese werden in Codes realisiert.
Praktische Anwendung in der Musikforschung
Diese Übertragungsüberlegungen von informatischen Techniken auf klassische Musik finden in praktischer Umsetzung aktuell nur in größeren Projekten statt, beispielsweise bei groß angelegten Editionen wie der Max-Reger-Ausgabe in Karlsruhe. In Tübingen werden sie bislang kaum verwendet. Da dort am musikwissenschaftlichen Institut eher Projekte kleineren Umfangs laufen, war dies bisher auch nicht zwingend notwendig.
Sowohl in Analyse als auch Kompositionsbereichen der Musik hat sich also gezeigt, dass informatische Techniken Hilfestellungen und neue Möglichkeiten liefern können. Kritisch könnte jedoch gesehen werden, dass durch maximale Komprimierung von Musik durch Codes und digitale Herstellung von Melodien durch Abstraktionen der individuelle schöpferische Geist der Musik verloren gehen könne. Seinen Reiz gewinnt Komposition eben gerade durch die Abweichung von strengen Regeln. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wo bleibt bei informatikbasierten Kompositionsweisen die Kreativität des Künstlers?
Ostermann betonte jedoch in diesem Zusammenhang, dass nicht jedes Modell starr hierarchisiert sein müsse und es durch die Arbeit mit statistischen Methoden durchaus möglich sei, Ausnahmen zu erfassen und zu erlauben. Schließlich wurden alle Komponist*innen nach bestimmten Regelwerken unterrichtet, schufen dann jedoch eigene, oftmals abweichende oder zeitgeistlich weiterentwickelte Kompositionen. Die Diskrepanz dazwischen ist ein wichtiger Bestandteil der kritischen musikwissenschaftlichen Untersuchung.
Fazit bleibt, dass Suchalgorithmen und Variantenmanagement diese Arbeit sinnvoll unterstützen könnten. Bislang wird jedoch in der Musikwissenschaft recht wenig mit statistischen Methoden gearbeitet.
Titelbild: (c) Omar Prestwich/unsplash.com