2020 ist ein Jahr, in dem Briefwahlen eine besondere Rolle spielen. Zunächst taten sie das bei der US-Präsidentschaftswahl Anfang November. Jetzt tun sie es wieder: Bei den Gremienwahlen an der Universität Tübingen. Über die Chance, Trump zu beweisen, wie demokratisch und frei von Manipulation die Briefwahl sein kann. Eine Glosse.
Das Konzept der Briefwahl steht immer wieder in der Kritik. So wird sie als Bequemlichkeitswahl, als Zeichen fehlenden Respekts vor der Demokratie und vom Noch-US-Präsidenten Trump sogar als “größte[r] Wahlbetrug in unserer [der US-Amerikanischen] Geschichte” bezeichnet. Es heißt, das Per-Brief-Wählen sei weniger gewissenhaft und anfällig für Manipulationen. Allerdings ist es viel mehr als ein reines Kreuzchensetzen, viel mehr als nur eine bequeme Methode für Faule, sich am Hochamt der Demokratie zu beteiligen.
Wer schon einmal einen Brief geschrieben hat, weiß das. Per Brief zu wählen ist letztlich, wie das Briefschreiben selbst, ein wohldurchdachter, zeitintensiver und oft sogar emotional ergreifender Akt, der Respekt vor dem Empfänger erfordert. So könnte Bruce Springsteen mit seinem neuen Lied Letter to You auch die Briefwahl meinen, wenn er von “Things I found out through hard times and good / I wrote ’em all out in ink and blood / Dug deep in my soul and signed my name true” und “In my letter to you / I took all my fears and doubts” singt. Letztere kann gar selbige Effekte auf die Gesellschaft haben wie Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther auf die Gesellschaft des späten 18. Jahrhunderts.
Dass Trump selbst der Briefwahl vertraut und an die Wirkung des Briefes glaubt, hat er bewiesen, indem er auch bei dieser Wahl per Brief abgestimmt hat. Er tut das vermutlich, weil auch er besondere Erfahrungen mit dem Briefeschreiben verbindet. Und er weiß, welche Herzensbedürfnisse das ausführliche, bedachte Verfassen oder Lesen eines Briefes erfüllt. So schrieb er 2007 einen Liebesbrief an Putin, in dem er sich dazu bekannte, “[…] a big fan of [Putin’s]” zu sein. 2018 erhielt er einen Liebesbrief von Kim Jong Un, in dem dieser schreibt:
“Selbst jetzt noch kann ich den historischen Moment nicht vergessen, als ich die Hand Ihrer Exzellenz gehalten habe”.
– Kim Jong Un in seinem Brief an Trump
Jetzt scheint Trump allerdings Angst zu haben, dass die Briefwähler*innen den Wahlbrief wie jeden anderen Brief behandelt haben und sich in ihm tatsächlich ihre Ängste, Befürchtungen und Emotionen der letzten Monate und Jahre reflektieren. Das Gewicht, das ein solcher Wahlbrief mit sich bringt, scheint ihm genauso giftig zu sein wie der Rizin-Brief, der 2018 an ihn geschickt wurde. Gerade ein solcher Wahlbrief ist aber der demokratischste überhaupt; er ist ein Liebesbrief an die Demokratie.
Dieses Prinzip sollten wir uns für die Uniwahlen am 08. Und 09. Dezember zu Herzen nehmen. Dabei können wir ausnutzen, dass es bisher keine Angst-vor-der-Briefwahl-Kampagne von Seiten der Kandidaten und Kandidatinnen gab. Wir müssen also auch nicht befürchten, dass unsere Briefe im Müll landen, wie es Trumps Brief an Erdogan 2019 tat. Der Vorfall scheint den US-Präsidenten so erschüttert zu haben, dass er für die Briefwahl-Zettel, mittels derer für ihn abgestimmt wurde, gleiches Schicksal befürchtet. Ähnliche Ereignisse sind aber bei den Kandidat*innen für die Gremienwahlen nicht bekannt. Was bleibt, sind die Ratschläge, die Trump in dem Brief erteilt:
“History will look upon you favorably if you get this done the right and humane way. (…) Don’t be a fool.”
– Trump in seinem Brief an Erdogan
Ein “fool” ist nur, wer nicht wählt. Denn nie war es einfacher, Strukturen an der Universität gewissenhaft zu überdenken und zu verändern. Unterlagen für die Briefwahl können Tübinger Studierende übrigens nur noch heute beantragen. Wer dies tut, beweist, dass er sich bewusst engagiert, um der Demokratie Brief und Siegel zu geben.
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