Am 03. August 2024 jährte sich der Völkermord des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) an den Jesid*innen zum zehnten Mal. Erstmals auch in Tübingen gezeigt, gibt der Dokumentarfilm „Bêmal – Heimatlos” den Betroffenen eine Stimme im Kampf um Gerechtigkeit. Einer von ihnen: Tahsin Mirza. Ein Interview.
2022. Das Herz schlägt schneller, pocht gegen den Brustkorb. Die Handflächen schwitzen leicht. Dann ertönt sein Name durch den Lautsprecher. Unter dem tosenden Applaus des Kölner Publikums schwingt sich Tahsin auf die Bühne. Es ist sein erster Comedy-Auftritt. Alles steht bereit, nur das Mikrofon will nicht mitmachen: Das Kabel löst sich vom Mikro ab. „Ich habe es zu Fuß bis nach Deutschland geschafft, aber ich weiß nicht, wie man ein Kabel bindet.“ Das Publikum lacht und markiert so den Beginn seiner Comedy-Karriere. Ich treffe mich mit Tahsin (25) zu einer Videokonferenz.
Kupferblau: Tahsin, seit zwei Jahren trittst du als Comedian auf und verarbeitest auf der Bühne unter anderem deine Erfahrungen nach deiner Flucht aus dem Irak. Was war deine Motivation mit Comedy anzufangen?
Comedy ist mein Therapieplatz, den ich in Deutschland nicht bekomme.
Tahsin Mirza
Tahsin: Ich sage es immer, aber es ist die Realität: Comedy ist mein Therapieplatz, den ich in Deutschland nicht bekomme. Ich kam nach Deutschland, ich war jung, überfordert, habe sehr viel Rassismus erlebt und war sehr frustriert. Ich hatte noch Familie und viele Jesiden in der Heimat und habe mich gesellschaftspolitisch machtlos gefühlt. Irgendwann habe ich Comedy als Therapie, als Methode für mich entdeckt. Und mich motiviert es einfach, Wege zu finden, Menschen zum Lachen zu bringen.
Welche Rolle nimmst du als Comedian auf der Bühne ein?
Mir ist wichtig, dass ich mit meiner Comedy keine Klischees verbreite, sondern, dass Menschen nach der Show sagen: „Wir haben gelacht, war echt lustig und wir haben uns reflektiert.“ Mir ist klar geworden, dass ich Comedy nicht für mich allein mache, auf keinen Fall. Ich mache Comedy für meine jesidische Community, für geflüchtete Menschen, für benachteiligte Gruppen. Ich mache Comedy aus einer Armutsperspektive, aus sehr vielen Perspektiven, die ich erfülle und die mir zunächst gar nicht bewusst waren. Aber ich mache das und seitdem ist der Druck und die Verantwortung auch größer.

Das diesjährige tüDOK-Festival, bei dem euer Dokumentarfilm lief, hatte das Leitthema „Identitäten“. Wie würdest du deine Identität(en) beschreiben und wie drücken sich diese im Alltag aus?
Also ich bin erst mal Tahsin. Jugendlicher, Comedian, Theaterpädagoge, aber ich bin auch ganz klar Jeside. Ich meine jesidisch zu sein, das ist so viel mit Natur verbunden, da gibt es so viele schöne Elemente, auch kulturell. Sonne, in die Natur zu gehen, das sind für mich auch Elemente, die zur Identität gehören.
Im Alltag drückt sich das für mich jeden Tag durch Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft aus. Das sind natürlich erst einmal Werte, aber die haben meine Eltern, meine Großeltern, meine Geschwister mir beigebracht. Ich bin wirklich süchtig nach Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft und versuche das in meinem Alltag einzubauen. Das kann auch nur kurz sein, wenn du einen älteren Menschen mit einem Koffer siehst, dann kannst du fragen, ob du das tragen sollst oder nicht.

Und meine Identität ist auch klar irakisch. Ich bin im Irak geboren und aufgewachsen, ich fühle mich auch irakisch. Ich sage immer, ich fühle mich jesidisch, irakisch, deutsch. Ich bin auch voll froh, das zu sein und das alles sein zu können. Früher hatte ich immer Angst, dass ich meine Identität einschränken muss. Ich hatte immer die Angst, meine Identität könne nur jesidisch, irakisch oder deutsch sein, aber niemals alles gleichzeitig. Und heute sage ich, sie kann alles drei sein – und das kann sich auch noch erweitern.
Welche Rolle spielt Comedy für dich im Ausleben deiner Identität(en)?
Also ich glaube, Comedy und Theaterspielen haben sehr viel dazu beigetragen, dass ich als Person selbstbewusst geworden bin und es auch heute noch bin. Das hat mir den Mut gegeben zu sagen, wer ich bin.
Stichwort jesidische Identität: Verarbeitest du auch jesidische Themen auf der Bühne und mit welchem Ziel?
Das kommt noch. Es ist leider schwer, weil die jesidische Community noch nicht so krass bekannt ist. Manchmal habe ich 20/25 Minuten-Auftritte und in dem Zeitraum muss ich erst mal fünf Minuten erzählen, was Jesiden sind. Deswegen will ich mehr Comedy für meine jesidische Community machen, zum Beispiel eine Dating-Show.
Wir Jesid*innen sind viel mehr als ein Genozid und ich möchte durch meine Arbeit Individualitäten jetzt in den Vordergrund stellen.
Tahsin Mirza
In anderen Sachen war ich schon gut, etwa auf den Film Bêmal und den Völkermord aufmerksam zu machen. Aber ich sage immer, wir Jesiden sind viel mehr als ein Genozid und ich möchte durch meine Arbeit Individualitäten jetzt in den Vordergrund stellen. Ich möchte nämlich, dass Menschen von der Assoziation etwas wegkommen, und nicht, wenn ich „Jeside“ sage, dass sie direkt an „Völkermord“ denken. Sondern auch an Kunst, Comedy, Poesie, Modeln, Musik, Bildung, Universität, aber auch einfach an etwas Lockeres, wie Fußball oder ein Restaurant.
Blicken wir noch auf euren Film „Bêmal-Heimatlos“, der erstmals auch in Tübingen lief. Neben Identität ist auch Heimat ein zentrales Motiv. Was verbindest du damit?
Heimat ist für mich wieder ein Gefühl. Und ich finde, Menschen ermöglichen dir eine Heimat. Sie können dafür sorgen, dass du dich überall heimisch fühlen kannst. Meine Heimat ist ganz klar Shingal [Stadt im Nordirak], wo ich geboren und mit meinen Eltern, Großeltern und Freunden aufgewachsen bin. Abends auf dem Dach zu schlafen, Sonnenblumenkörner mit der Familie auf der Terrasse zu essen, Fernsehen zu gucken. Das alles ist Heimat mit diesen Menschen.
Aber Deutschland ist auch meine Heimat geworden. Also vielleicht besser gesagt Rheda-Wiedenbrück. Ich habe hier meine Lieblingsorte und fühle mich sehr zu Hause. Und dafür haben auch viele Menschen gesorgt, dass ich dieses Gefühl habe. Die haben mir das nicht abgesprochen. Also die allermeisten.
Gab es etwas, das dir dabei geholfen hat in Deutschland eine Heimat zu finden?
Ich wollte schon immer dazu gehören und hatte das Gefühl, dass ich sehr oft diskriminiert und ausgegrenzt wurde. Aber nicht bei meinen Freund*innen, in der Schule, meinen Lehrer*innen und meiner Fußballmannschaft. Wenn ich irgendwo Glück hatte, dann auf jeden Fall hier. Sie haben auch dazu beigetragen, dass ich mir hier noch eine neue oder Plus-Identität finden konnte. Also die haben mir nicht gesagt, ich sei nicht deutsch. Sondern die haben mir gesagt: „Wenn du magst und du es fühlst, bist du es.“ Die haben das nie in Frage gestellt. Sie haben mir die Tür aufgemacht und meinten, du entscheidest selbst. Das hat dazu beigetragen, dass ich mich deutsch fühle.
Hat sich durch den Film und die mediale Präsenz etwas in der jesidischen Community verändert?
Ich habe gemerkt, dass viele Menschen sehr wenig oder gar nichts über das Thema wussten. Aber durch Bêmal haben Jesid*innen in Deutschland viel Aufmerksamkeit bekommen. Die Jugendlichen hier sind dadurch mutig geworden und verstecken sich nicht mehr, sondern sagen: „Ja, ich bin Jeside. Das ist meine Identität und ich stehe dazu.“ Vorher haben sich die Leute das nicht getraut. Auch meine Mama sagte mir oft: „Sag nicht, dass du Jeside bist. Vielleicht können dir Leute Probleme machen, dich schlagen oder umbringen.“

Welche Botschaft möchtest du dem Tübinger Publikum mitgeben?
Also erstmal bin ich wirklich sehr dankbar, dass Menschen sich den Film überhaupt anschauen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich würde mich sehr freuen, wenn Menschen diese persönlichen Geschichten mitnehmen und sie nicht als Opferrolle sehen, sondern sie aus einer Kämpfer*innen-Rolle betrachten. Die Geschichten sind sehr traurig, aber mir ist es wichtig, dass es bei der Trauer nicht aufhört, sondern dass man, sobald man wieder geht, im Umfeld darüber redet, was uns passiert – vor allem Kindern und Frauen – und sich weiterbildet und versucht, solidarisch mit der jesidischen Community in Deutschland zu sein, aber auch allgemein mit allen Menschen. Ich habe nämlich die Hoffnung, dass, wenn Minderheiten in Deutschland zu Wort kommen, die Mehrheitsgesellschaft oder Menschen mit Privilegien, sich dadurch solidarisch zeigen und ihre Ressourcen, Chancen, Macht und Privilegien nutzen, um diesen Menschen zu helfen.
Danke für deine Zeit und das Gespräch.
Ich schließe unsere Videokonferenz. Eins ist mir klar geworden: Tahsin ist nicht nur Comedian. Er ist Bruder, Pädagoge, Deutscher, Jeside, Iraker, Vorbild und vieles mehr, was man mit Worten nicht beschreiben könnte. Aber vor allem ist er eins: süchtig nach Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft. Das bekommt man sofort mit. Auch ohne angeschlossenes Kabel am Mikrofon.
Beitragsbild: Tahsin Mirza