Es gibt etwas zu feiern: die Literatur-WG hat es geschafft! Mit Luca Kieser haben sie den ersten Kandidaten, der sich tatsächlich auf das WG-Casting selbst beworben hat. Das Lob von Selina Seemann fällt noch höher aus: sie sei durch Funk und Fernsehen, durch Flugzeuge mit Werbebannern und durch Empfehlungen bei der Nobelpreis-Verleihung auf das WG-Casting aufmerksam geworden. Es geht in die siebte Runde und hier folgen die Eindrücke der Kupferblau:
Ein kurzer Überblick, was die Literatur-WG eigentlich ist: Sie wird von dem studentischen Verein Querfeldein präsentiert und ist eine Gruppe junger Tübinger Studierender unterschiedlicher Fachrichtungen, die seit 2021 das literarische WG-Casting organisiert. Einmal im Semester laden sie Debütautor*innen zu einem WG-Casting ein. Den Kandidat*innen werden auf der Bühne dann nahezu klassische WG-Casting-Fragen gestellt, die in ein Gespräch über ihren Debütroman übergehen. Dadurch sollen die Autor*innen besser und auch persönlicher kennengelernt werden. Auch an diesem Abend begrüßen die Moderator*innen Caro und Alex das Publikum im Café Haag.
Ein Tübinger kehrt zurück
Mit Luca Kieser haben wir Prominenz im Haus. Sein Debütroman “Weil da war etwas im Wasser” ist auf der Longlist für den deutschen Buchpreis 2023. Luca (wie in einem WG-Casting üblich, wird natürlich geduzt) kommt ursprünglich aus Tübingen und hat sich daher nach Möglichkeiten umgesehen, in der alten Heimat von seinem Buch zu erzählen. Und das macht er mit ruhiger Stimme, bedachten Antworten und sympatischem Witz.
“Mir ist nicht das Schreiben passiert, sondern mir ist einfach sonst nichts passiert.”
Luca Kieser
Auf der Bühne wird das Format des WG-Castings sehr ernst genommen. Caro duldet nicht, dass das WG-Casting von Luca als “Tarnung für ein Literaturformat” benannt wird. Die folgenden Fragen bringen uns den Alltag von Luca näher. Wir lernen, dass er seinen Kaffee am Abend vorkocht und morgens kalt trinkt. Skepsis kommt auf, als Luca erzählt, dass sein Wecker bereits schon um 7:00 klingelt und er eigentlich am liebsten seine Ruhe hätte. Am ehesten kann er sich eine Schreibenden-WG mit Helene Bukowski vorstellen, eine befreundete Schriftstellerin, deren Tagesrhythmus genau konträr zu seinem ist.
Gemeinsamkeiten werden entdeckt, als Luca erzählt, dass er 2016 in Wien mit Freunden eine Lesereihe gegründet hat. Sein Ziel, zu Schreiben, hat sich schon vor einigen Jahren gefestigt. “Weil da war etwas im Wasser” ist sein drittes Romanmanuskript, sein erster veröffentlichter Roman wurde direkt für den deutschen Buchpreis nominiert. Die Geschichte wird aus der Sicht von acht Armen eines Tintenfisches erzählt. Alle haben andere Persönlichkeiten und erzählen unterschiedliche Geschichten. Ein Arm davon erinnert stark an die Vita des Autors selbst. Etwas mehr über den Roman erfahren wir anhand von vier Gegenständen, die die Moderation mitgebracht hat.
Vier oder drei… das sind doch bürgerliche Kategorien
Gegenstand eins und zwei können zusammengefasst werden. Es ist ein grüner Cocktail und das Buch “der weisse Hai”. Beides spielt darauf an, dass einer der Arme erzählt, dass es die Shark Attack als Drink gibt. Luca hatte ihn sich rot vorgestellt, hat es nie ausprobiert und gibt zu, keinen Alkohol zu trinken. Ein Interview von 2021 suggeriert etwas anderes, woraufhin Luca uns sein Gleichgewicht aus Dolce Vita erzählt – eine Phase des Genießens und unter Umständen auch des Rausches – und aus Dolce Vital – ein Ausgleich dazu, mit Pilates und Spaziergängen.
Gegenstand drei ist ein Klettverschluss, der Luca an den Süßen Arm erinnert. Dieser erzählt die Geschichte von Sanja, Praktikantin auf einem Krill-Trawler und entzückt davon, dass hier sehr vieles mit Klettverschluss gesichert ist. Sanja hat nämlich eine Phobie vor Knöpfen. Sie sichert sogar ihr Tagebuch mit einem Klettverschluss am Tisch, damit es bei Wellengang nicht wegrutschen kann.
Gegenstand vier ist ein Apfel. Das Buch erzählt hier von Dagmar, eine ältere Dame auf dem Schiff, die Geheimagentin ist. Aus Langeweile beginnt sie Geschichten aus ihrer Kindheit aufzuschreiben. Einmal hat sie sich als Kind in einem alten Apfelbaum versteckt. Der Erzählstrang wechselt wieder zu einem Arm des Tintenfischs, der eine Assoziationskette von Apfelbaum, zu Apfel, zur Symbolik Scham, zum Penis, zu Beschneidung anstößt. Hier entstehen auffällige Parallelen zum Autor. Luca rechtfertigt dieses Schreiben über seinen Penis damit, dass es eine popkulturelle Referenz auf einen Text von Clemens Setz sei.
Abschließend kommen noch die traditionellen drei entweder/oder-Fragen. Luca entscheidet sich für Wien, statt Tübingen, gegen Lyrik und für Prosa und bei der Frage nach Kalmar oder Flamingo nach langem Zögern für Tübingen. Vernünftige Entscheidung!
Wenn Wuppertal mit Paris verglichen wird
Selina Seemann – ja, das ist ihr echter Name – schwärmt von Wuppertal und der dazugehörigen Schwebebahn wie andere von Venedig oder Stockholm und vergleicht es ernst gemeint mit Paris. Eine Bewerbung an die Stadt für die Stadtschreiber*innenstelle ist raus. Caro und Selina finden schnell Falco als gemeinsame Passion. Ihr Faible für Sauberkeit gefällt Alex. Ihre Chancen auf das Zimmer stehen gut. Schriftsteller*innen mit denen sie nie zusammenleben wollen würde sind u.a. J.K.Rowling und stellvertretend für alle Nazis Thilo Sarrazin. Selina schläft gerne aus, chillt viel und schreibt, wenn ihr eine Idee in den Kopf kommt.
“Ich wäre ein richtig geiles Sofa. Zum drauf liegen und schlafen, gemütlich und gechillt.”
Selina Seemann
Selinas Karriere begann mit einem Poetry-Slam über einen Lauch. Inzwischen hat sie eine Steuernummer; außerdem eine Sammlung all ihrer Tweets und einen Debütroman veröffentlicht. Dieser erzählt von Milena, einer 15-jährigen in einer Beziehung mit einem zwanzig Jahre älteren Mann. Selina hat den Roman in der Ich-Perspektive geschrieben. Für bessere Glaubwürdigkeit. Das führt allerdings dazu, dass ihr oft unterstellt wird, der Roman sei autobiografisch. Ist er nicht. Außer vielleicht ein paar kleine Details wie der Hass auf aufgewärmtes Essen oder die Liebe zu Käsewürstchen. Selina wollte mit diesem Roman keine klassische Opfergeschichte erzählen. Sie wollte zeigen, dass das Leben weiter geht. Sie wollte von einem starken Ausbruch erzählen.
Durch einen Schnürsenkel, den die Moderation mitgebracht hat, beleuchtet sie, dass der missbräuchlich handelnde Nick offenbar nie wirklich erwachsen geworden ist. Milena muss ihm zeigen, wie man Schuhe bindet.
Ein Aux-Kabel repräsentiert eine Szene, die von Kritiken als besonders schön, von Selina aber als besonders schmerzlich empfunden wird. Milena versucht durch die gleichen Songs, in der gleichen Reihenfolge die Gefühle, die sie am letzten schönen Tag der Beziehung hatte, wiederherzustellen.
Die naturtrübe Limo löst Freudenrufe aus. Sie ist ein Symbol für einen Befreiungsversuch Milenas, als sie Josh aus Irland kennen lernt und mit ihm zusammen naturtrübe Limo trinkt.
Ein offenes Ende sorgt für Irritation
Selina liebt die Kritiken, die an ihrem Roman geübt werden, aber sie verteidigt ihn vehement, wenn es darum geht, dass er nur traurig, deprimierend und verstörend genannt wird. Sie sieht die Geschichte als Hoffnung bringend. Ein schreckliches Ereignis ist kein finales Urteil. Das letzte Kapitel hat sie im Konjunktiv geschrieben, absichtlich ein offenes Ende kreierend. Das Lektorat hinterfragte diese Entscheidung, ließ es ihr aber; viele Kritiken hängen sich daran auf. Warum? Ist ein unklares Ende zu sehr wie das echte Leben? Wie es auch auf dem Einband steht, ist es damit ein Buch für alle, die Houellebecq lieben aber auch hassen, schreibt Elias Hirschl.
Auch Selina bekommt abschließend drei entweder/oder Fragen. Zwischen Poetry-Slam und Roman kann sie sich nicht entscheiden und sagt: Arbeit – Poetry-Slam, Privat – Roman. Die Entscheidung bei Bier oder Limo fällt schnell auf Limo. Bei der Frage “lieben oder geliebt werden” freut sich Selina sehr, da es erneut eine Anspielung auf ihr Buch ist und entscheidet sich für beides in einem gesunden Verhältnis zueinander.
…aber wer hat jetzt das Zimmer bekommen?
Titelbild: Signe Gottschalk