Ein Workaholic, eine Frau mit Unsicherheiten und Redeangst, eine warmherzige Freundin, deren Tür immer offenstand. Dieses Bild zeichnete Lou Zucker am Sonntag bei ihrer Lesung über die Sozialistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin. Doch warum wird eine solche Frau in einer Reihe genannt mit NS-Anhängern, Militaristen, Antisemiten und Kolonialisten? Ein „Knoten“ am Straßenschild der Clara-Zetkin-Straße soll genau das tun und sie als „kritikwürdig“ brandmarken. Das Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“, das zur Veranstaltung eingeladen hatte, stellt sich dem entgegen. Im Anschluss an die Lesung sprach die linke Gemeindratsabgeordnete Gerlinde Strasdeit zum Thema.
Viele, die am Sonntag den Weg in den Club Voltaire gefunden hatten, konnten nicht ganz verstehen, was die Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen sich dabei gedacht hat: Clara Zetkin, genauer gesagt die nach ihr benannte Straße in Lustnau soll einen „Knoten“ bekommen. Der silberne Knoten am Straßenschild soll jene Straßen kennzeichnen, deren Namensgeber die Kommission, bestehend aus Historiker*innen, Archivar*innen und einem Soziologen, als „kritikwürdig“ deklarieren. Im Abschlussbericht des Komitees stehen 18 Namen: Wir lesen zum Beispiel von Theodor Dobler, der seine NSDAP-Mitgliedschaft während des Entnazifizierungsverfahrens verschwieg, oder von Eduard Haber, der im Kolonialdienst eine steile Karriere hinlegte und unter anderem im damaligen Deutsch-Ostafrika tätig war, während dort der sogenannte Maji-Maji-Aufstand niedergeschlagen wurde – mit etwa 300.000 Opfern. Und in diese Liste reiht sich Clara Zetkin ein. Clara Zetkin, die vielen als Vorbild gilt. Clara Zetkin, die als Begründerin des Internationalen Frauentags, dem 8. März, aus der Geschichte der Frauenrechtsbewegung nicht wegzudenken ist. Eine „international anerkannte und geachtete Persönlichkeit“, wie das Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“, das zu der Veranstaltung am Sonntag eingeladen hatte, auf seiner Website schreibt.
Die Kritik
„Mitwirkung an Justizverbrechen“ und „Demokratiefeindlichkeit“, das wirft die Kommission der Frauenrechtlerin, Sozialistin, Antimilitaristin und Antifaschistin vor. Zweiteres bezieht sich vor allem auf Zetkins sozialistische Einstellung und Aktivität. Der Abschlussbericht der Kommission hatte Zetkins Äußerungen als „im Kern totalitär“ beschrieben. Die Landeszentrale für politische Bildung (lpb) sieht Zetkin dagegen als „Wegbereiterin der Demokratie im Südwesten“. Beim Vorwurf der Mitwirkung an Justizverbrechen geht es um Aussagen Zetkins im Zusammenhang eines Prozesses 1922 in der Sowjetunion gegen sogenannte Sozialrevolutionäre, eine Gruppe von Personen, die geplant hatte, die sowjetische Regierung gewaltsam zu stürzen. In diesem Zusammenhang wirft die Kommission Zetkin vor, für die Todesstrafe der Angeklagten plädiert zu haben.
Clara Zetkin – politisch und persönlich
Bevor die Argumente der Kommission näher besprochen wurden, sollte der Abend jedoch erst mal Clara Zetkin als Person gewidmet werden, als „geachtete Persönlichkeit“, als Vorbild. Lou Zucker war eingeladen worden, um einen Eindruck von Clara Zetkin als politische und private Person zu vermitteln. Anhand ihrer Zetkin-Biografie „Clara Zetkin – eine rote Feministin“ zeichnete die Journalistin und Autorin Zetkins bewegtes Leben nach: Die Kindheit in Wiederau in Sachsen, wo es den Eltern wichtig ist, Clara als Mädchen so viel Zugang zu Bildung wie möglich zu verschaffen. Die ersten Kontakte zur Arbeiter*innenbewegung und die Heirat Ossip Zetkins, eines russischen Revolutionärs. Das Exil in Paris, wo es permanent an Geld fehlt, Clara zwei Söhne großzieht und währenddessen unentwegt in der Arbeiter*innen- und Frauenbewegung aktiv ist, in Betriebe geht, Arbeiter*innen organisiert und Artikel schreibt. Zucker schildert lebhaft Zetkins erste Reden, vor denen die Frau, die in ihrem Leben noch viele Reden halten sollte, vor Angst und Nervosität kaum schlafen konnte. Die Anwesenden hören von Zetkins Zeit als Gründerin und Chefredakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit in Stuttgart, vom Tod ihres Mannes. Die Freundschaft mit Rosa Luxemburg sei prägend gewesen, erzählt Zucker, auf persönlicher Ebene und politisch, beide wirkten in der SPD, USPD und KPD. Zucker zeichnet Zetkin als eine entschlossene Person voller Tatendrang, trotz chronischer Krankheit. Auch noch bis kurz vor ihren Tod, wo sie 1932 als Alterspräsidentin den Reichstag eröffnete, der bereits von der NSDAP dominiert war. Dort noch einmal mit aller Nachdrücklichkeit zum Widerstand gegen den Faschismus aufzurufen, war ihr wichtig, über jene Reichstagseröffnung sagte sie: „Ich werde kommen – ob tot oder lebendig“.
Die vollständige Verwirklichung von Demokratie
Nun kannten die Zuhörenden also diese Person Clara Zetkin, ganz persönlich, mit ihren Unsicherheiten und Sorgen. In der Biografie beschreibt Lou Zucker Szenen so, dass es einfach ist, sich vorzustellen, wie sie wirklich gewesen sein könnte – auch wenn sie dafür manchmal Details wie das Wetter oder die Geräuschkulisse hinzuerfinden muss. Auch mit einem Originalmitschnitt aus einer Rede Zetkins, in dem das Sächseln der Politikerin deutlich zu hören ist, brachte Zucker den Anwesenden Clara Zetkin, den Menschen, auf berührende und inspirierende Weise näher.
Doch es gibt noch eine Kontroverse zu klären. Bereits eingangs hatte Sophie Voigtmann vom Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“ eine klare Positionierung verlesen: Clara Zetkin gehöre auf keinen Fall in eine Liste voller „rechter und faschistischer Demokratiefeinde, gegen die sie ankämpfte“. Gerlinde Strasdeit von der Linksfraktion im Gemeinderat erklärte nun noch einmal die aktuelle Situation: Am 5. Oktober soll die Entscheidung über die Knotenvergabe vom Ausschuss für Kultur, Bildung und Soziales des Gemeinderats gefällt werden. Die Linksfraktion fordere allerdings, dass die Sache am 26. Oktober mit dem gesamten Gemeinderat diskutiert werden soll. Diesem Antrag müssten im Kulturausschuss mindestens fünf Mitglieder zustimmen.
Das Aktionsbündnis brachte am Sonntag einige Belege und Argumente gegen den Knoten vor: Beispielsweise sei es im Gegenteil zur Darstellung der Kommission zu einem großen Teil Zetkins persönlichen Engagement zu verdanken, dass die Todesurteile gegen die Sozialrevolutionäre letztendlich nicht vollstreckt wurden; dafür sprach Zetkin sich in einem Brief an die russische Regierung aus und überzeugte Leo Trotzki persönlich – und mit Erfolg – von dieser Position. Die Erklärung Zetkins, in der sie sich solidarisch mit den Urteilen erklärt, beziehe sich explizit auch auf den Zusatz der Aussetzung der Todesstrafen.
Zum Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit äußerte Sophie Voigtmann, dass man fundamental unterscheiden müsse zwischen rechten, teils faschistischen Demokratiefeinden und der Kritik Zetkins an der bürgerlichen Demokratie, die aus einem Streben nach der „vollständigen Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ heraus geschah.
Kritikwürdig oder diskussionswürdig?
Noch fast bis halb elf diskutierten die Anwesenden über den Knoten. Kaum eine Person verließ den Club Voltaire früher, das Thema lag vielen offensichtlich am Herzen. Das Bündnis und auch einige Zuschauer*innen verwiesen auf Ungereimtheiten in der Argumentation der Kommission: So sei beispielsweise ein Knoten für die Friedrich-Ebert-Straße überhaupt nicht im Gespräch, obwohl dieser als Reichspräsident Todesurteile nicht nur abstrakt unterstützt, sondern angeordnet hatte. Auch die Bismarck- oder die Wilhelmstraße, die Namen „patriarchaler Herrscher“ tragen, seien auf der Liste nicht zu finden. Eine Zuhörerin äußerte ganz allgemeine Kritik am Vorgehen der Kommission, die auch Strasdeit bejahte: „Die Kommission hat doch offensichtlich ihren Arbeitsauftrag eigenständig ausgeweitet“! Das stimmt, denn ursprünglich waren die Knoten als temporäre Marker für Straßen gedacht, die auf Umbenennung geprüft werden sollten. Damit die Stadtbevölkerung sich während der Prüfung ebenfalls mit den problematischen Namen auseinandersetzen könne, sollten die Knoten angebracht werden. Dass jetzt einige Knoten langfristig hängenbleiben und eine allgemeine „Kritikwürdigkeit“ statt eine bevorstehende Umbenennung signalisieren sollen, war nicht vorgesehen. Eine andere Zuhörerin kritisierte in diesem Zusammenhang, dass die Beknotung der Zetkinstraße bisher nie in einem großen, demokratischen Gremium diskutiert worden sei.
“Die Kommission hat ihren Arbeitsauftrag eigenständig ausgeweitet.”
Besucherin der Veranstaltung
Einzelne Stimmen sprachen sich allerdings auch für den Knoten aus. Eine Zuhörerin verwies darauf, dass die Liste nicht als negative Anklage zu verstehen sei, sondern als Anregung für weiteres Nachdenken und Diskutieren. Ein anderer Zuhörer argumentierte, dass sich eine kritische Auseinandersetzung mit Akteur*innen, die im Zusammenhang mit führenden Persönlichkeiten in der Sowjetunion standen, wie es Zetkin war, sich immer lohne, ganz unabhängig von spezifischen Aussagen oder Handlungen. Auch Lou Zucker beteiligte sich an der Diskussion. Für sie sei ganz „natürlich“ klar, dass Clara Zetkin auf dieser Liste fehl am Platz sei. Sie erklärte aber auch, dass das nicht bedeute, dass man an Clara Zetkin keine Kritik üben könne und dürfe. „Auch ich stimme ihr ganz bestimmt nicht in allem zu, was sie gesagt hat,“ differenzierte Zucker.
Hier findet findet ihr die Website des Aktionsbündnisses “Kein Knoten für Zetkin” sowie den Abschlussbericht der Kommission zur Überprüfung der Tübinger Straßennamen.
Beitragsbild: Sophie Vollmer