Wer in Tübingen studiert, kommt kaum an ihm vorbei: Es gibt Hegel-Seminare, eine Hegelstraße, einen Hegelbau; dieses Semester gab es eine Clubhaus-Party mit dem Titel „Sternhegelvoll“. Der Philosoph Hegel zählt zu den bedeutendsten Personen, die die Universität Tübingen als Alumni zu verzeichnen hat. Aber wer ist denn dieser Hegel?
Auch wenn man keine Ahnung von Hegel hat, kennt man bestimmt die allgemeine Auffassung zu seiner Person: Alter weißer Mann, Rassist, schwierig zu verstehen, überbewertet—das zumindest hört man oft von Studierenden. Fragt man alte weiße Männer, die für prestigeträchtige Zeitungen arbeiten, hört man, Hegel sei der Denker der Freiheit, der größte Deutsche Idealist, der Anti-Sklaverei-Kämpfer schlechthin. Hier also ein Überblick über Hegel und die Debatte um ihn:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren und begann im Wintersemester 1788/1789 in Tübingen Philosophie und evangelische Theologie zu studieren. Er lebte im Tübinger Stift und war zeitweise Zimmergenosse von Friedrich Hölderlin und Friedrich Schelling. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Ausbildung studierte er Philologie, Geschichte, Philosophie, Physik und Mathematik. Er war zeitweise in einen Studentenclub involviert, der die Ideen der französischen Revolution unterstützte. Diese beeinflussten Hegels Philosophie nachhaltig.
Nach seinem Studium wurde Hegel Hauslehrer in Bern, später in Frankfurt am Main. Ab 1801 lehrte er in Jena, wo er 1805 durch Empfehlung von Johann Wolfgang Goethe und Schelling zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Als die Truppen Napoleons 1806 nach Jena vorrückten, äußerte er sich zunächst noch begeistert über die Anwesenheit Napoleons, er schrieb, er habe eine „Weltseele“ reiten sehen. Bei der Besatzung der Stadt durch die französischen Truppen musste Hegel Jena jedoch verlassen. Er verbrachte anschließend mehrere Jahre in Bamberg, wo er sich als Journalist versuchte und in Nürnberg, wo er Rektor eines Gymnasiums war. 1816 konnte er in Heidelberg schließlich wieder als Professor arbeiten, bis er an die Universität von Berlin berufen wurde und ab 1818 dort eine Professur innehatte. Seine dortigen Vorlesungen erfreuten sich äußerster Beliebtheit, selbst außeruniversitäre Hörende strömten zu ihnen. Hegel war so populär geworden, dass sein Konkurrent Arthur Schopenhauer seine Vorlesungen absichtlich auf dieselben Uhrzeiten wie die von Hegel legte, nur um feststellen zu müssen, dass nun niemand mehr zu ihnen aufkreuzte. Zu seiner Zeit in Berlin bestimmte Hegel die geistige Haltung Preußens.
Sein Erbe besteht bis heute
Hegel starb am 14. November 1831, vermutlich an Cholera, die zu der Zeit in Berlin wütete, oder einem anderem Magenleiden. Sein Erbe besteht gewiss bis heute. Die von Karl Marx entwickelte politische Ökonomie und der Historische Materialismus sind ohne Hegels Philosophie nicht denkbar. Lenin bezeichnete Hegels Philosophie als Voraussetzung für den wissenschaftlichen Sozialismus. Der Einfluss Hegels reicht bis in die politische Philosophie, Soziologie, Naturphilosophie und weitere Disziplinen, er erstreckt sich weit über die deutschen Grenzen hinaus. In unzähligen Schriften über ihn oder in Hegel-Kongressen weltweit lebt er ein Stück weiter, obwohl er eine Zeit lang fast in Vergessenheit geraten wäre. Man kommt praktisch nicht darum, sich mit Hegel auseinanderzusetzen, ob man es will oder nicht.
Ideengeber des Rassismus?
Hiermit endet aber das Interesse an seiner Person noch nicht: Gerade in den letzten Jahren werden viele der großen Philosophen erneut unter die Lupe genommen. Wo früher problematische Stellen in den Werken Hegels gerne überblättert wurden, sehen ihn manche heutzutage kritisch: Denn auf der einen Seite befürwortet er zwar die Sklavenaufstände der Haitianischen Revolution, er schreibt: „Die Sklaverei ist an und für sich Unrecht, denn das Wesen des Menschen ist die Freiheit“. Auf der anderen Seite spricht er allerdings auch Schwarzen Menschen die Menschlichkeit ab und behauptet, man müsse ihnen den Drang zur Freiheit, gleich Kindern, „anerziehen“. Es gibt zahlreiche Stimmen, die Hegel verteidigen und behaupten, aus seiner Philosophie der Freiheit ergebe sich automatisch eine anti-rassistische Position. Der Journalist Folko Zander schreibt in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, vermeintlich rassistische Aussagen stammten gar nicht aus Schriften Hegels selbst, sondern aus Mitschriften, deren Kontext und Legitimität nicht endgültig geklärt seien. Oft genug werden Hegel-Zitate genannt, in denen er sich für die Gleichbehandlung aller Menschen ausspricht. Auf der Kehrseite dagegen gibt es viel Kritik, Hegel würde in seiner Philosophiegeschichte explizit nicht-europäische Philosophie ausschließen. Die Journalisten Daniel James und Franz Knappik sind in ihrem Artikel für die FAZ zu diesem Thema der Auffassung, Hegel habe über Jahre hinweg an einer hierarchischen Theorie der Menschenrassen gearbeitet. Sie erklären Hegel als mitverantwortlich für die rassistische Rechtfertigung des Kolonialismus.
Wie mit Hegels Werken umgehen?
Angesichts der Masse an Informationen, die über Hegel und auch über den Streit um seine Person in Archiven wie im Netz kursieren, ist es schwierig, ein klares Urteil zu treffen. Die posthumen Veröffentlichungen von Mitschriften aus Hegels Vorlesungen trugen in der Vergangenheit derartig zu seiner Popularität bei, dass zwischen seinen eigenen Worten und Quellen aus zweiter oder dritter Hand unterschieden werden muss. Es ist aber eine ganz andere Diskussion, ob ein problematischer Philosoph direkt aus dem Lehrplan gestrichen werden sollte oder nicht—solche Forderungen existieren auch. Es gibt andererseits genug Verteidiger*innen Hegels, die sagen, die rassistischen Aussagen Hegels stünden am Rande seines Werks und hätten mit seiner eigentlichen Philosophie nichts zu tun. Tatsache ist, dass die Philosophie, so, wie sie aktuell an Universitäten in Deutschland gelehrt wird, auf den gedanklichen Werken der großen Philosoph*innen beruht, ob sie problematisch zu beurteilen sind oder nicht. Der westlichen Philosophie dieses Fundament zu nehmen, wird nicht funktionieren. Es kommt darauf an, wie man mit solchen ideologisch gefärbten Werken umgeht. Vergisst man sie, um der Gesellschaft nur die schönen Seiten der deutschen Philosophietradition zu präsentieren? Oder spricht man sie beispielsweise im Rahmen einer universitären Veranstaltung offen an und setzt sich mit ihr auseinander, um sie zu hinterfragen, zu widerlegen und Lehren daraus zu ziehen? Denn ob es unter den großen Denker*innen, die uns tagtäglich begegnen überhaupt irgendeine Person gibt, die keine problematischen Seiten hat, ist die eine Frage. Ob man nach solchen Personen aber direkt ganze Gebäude oder Universitäten benennen sollte, die andere.
Wenn ihr mehr über die historische Vergangenheit der Universität Tübingen lernen wollt, findet ihr in der aktuellen Print-Ausgabe der Kupferblau zahlreiche Artikel zu diesem Thema, die seit dieser Woche in den Unigebäuden ausliegt.
Titelbild: wikimedia commons
Literaturangaben:
Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Nymphenburger Verlagshandlung, München 1966. ISBN 3-485-00863-X
Henning Ottmann: Herr und Knecht bei Hegel. Bemerkungen zu einer mißverstandenen Dialektik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. Band 35, Nr. 3/4, 1981, ISSN 0044-3301, S. 365–384.
Very interesting and very well written!