William Cowper, der englische Dichter und Frühromantiker, schrieb einmal: „Gott machte das Land, der Mensch die Stadt.“ In Städten, besonders in solch alten wie Tübingen, deren erste urkundliche Erwähnung ins Jahr 1078 zurückreicht, lassen sich die Spuren der Zeitgeschichte nachfühlen. In die Gebäude, die Literatur, in die Pflastersteine, Bäume, Brücken und Mauern ist die Stadtgeschichte Tübingens eingraviert. Über Jahrhunderte sind unzählige Menschen durch die Gassen und Straßen der Neckarstadt hinweggegangen – die Kupferblau hat einen Spaziergang durch Tübingen gemacht und herausgefunden, woher und von wem die vielen Straßen ihre Namen bekamen.
Tübingens berühmtester Sohn
Wer kennt sie nicht – Tübingens malerisch gelegene Altstadt, die Stiftskirche, den großen Marktplatz und natürlich die Eberhard-Karls-Universität. Über die Jahre hinweg besuchten viele große Persönlichkeiten diese ausgezeichnete Bildungseinrichtung und genossen das bunte Treiben der Stadt.
Tübingens wohl berühmtester Sohn ist Friedrich Hölderlin, genauer: Johann Christian Friedrich Hölderlin. Der aus Lauffen stammende junge Mann zählt zu den bedeutendsten Lyriker*innen seiner Zeit und war politisch sowie philosophisch interessiert. So setzte er sich intensiv mit Immanuel Kants frühidealistischer Philosophie und Johann Gottlob Fichtes Lehren auseinander und war selbst, wie so viele Schöngeister der Romantik, Pantheist. Hölderlin war Student an der Universität Tübingen und Stipendiat im evangelischen Stift. Zum Leidwesen seiner Mutter entschied sich der junge Mann aber gegen eine theologische Laufbahn – wie konnte dies anders sein, nachdem er Goethe, Novalis, Hegel und sogar Schiller kennenlernte. So verdanken wir ihm heute wunderschöne Oden, Hymnen und Elegien und sogar einen Roman.
Heute finden sich Spuren des Dichters überall in Tübingen. Man kann zum Beispiel den Hölderlinturm besichtigen, in welchem er während seiner letzten Jahre ein Zimmer bewohnte, Spaziergänger*innen finden eine Hölderlin-Statue im Alten Botanischen Garten, und die oberhalb der Universität gelegene Hölderlinstraße ist natürlich auch nach ihm benannt.
Großfamilien aus Württemberg
Die ebenfalls nahe der Universität gelegene Gmelinstraße hat gleich mehrere Namensvetter. Der Stammbaum der Gmelins kann bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden und der Familie entstammen namhafte Theolog*innen, Chemiker*innen, Politiker*innen und Naturforschende. Das erste Wohnhaus der Gmelins in Tübingen war die heutige Mayer’sche Apotheke am Markt.
Zu den berühmtesten Vertreter*innen dieser alten Familie zählt Johann Georg Gmelin (1709-1755). Er begann sein Studium an der Universität Tübingen mit 13 Jahren, schloss in Medizin und Naturwissenschaften ab, erlangte mit 22 den Professorentitel für Chemie und Naturgeschichte (allerdings in Russland), und widmete sein Leben der Sibirienforschung.
Johann Friedrich Gmelin (1748-1804) ist ebenfalls ein berühmter Tübinger. Der Mediziner und Naturwissenschaftler lehrte sowohl an der Universität Tübingen als auch an der Universität Göttingen und nach ihm wurde eine Wermut-Art, die Artemisia gmelinii, benannt.
Und noch ein dritter Gmelin soll Erwähnung finden, auch wenn seine Berühmtheit eher trauriger Natur ist: Hans Gmelin (1911-1991), bekennender Nationalsozialist und während des Krieges Gesandtschaftsrat für das Deutsche Reich in der Slowakei. Gmelin regierte als Oberbürgermeister Tübingens von 1954 bis 1974. Er liegt auf dem Stadtfriedhof begraben.
Die Rümelinstraße lässt sich ebenfalls auf eine bekannte württembergische Familie zurückführen. Zwei Namensvertreter sind besonders interessant: Johann Martin Rümelin (1586-1626) und Alexander M. Rümelin (1968-heute). Ersterer studierte an den Universitäten Tübingen und Jena und wurde nach seiner Promotion an die Uni Tübingen zum Professor für Sprachen berufen. Er unterrichtete Griechisch und Latein oder Hebräisch, was von beidem ist nicht eindeutig nachweisbar. Er bekleidete außerdem neun Jahre lang das ehrenvolle Amt des Tübinger Universitätsbibliothekars.
Alexander M. Rümelin ist Schauspieler, Filmproduzent und Autor. Er wirkte bei verschiedenen deutschen Fernsehserien mit und bei der 2016er Adaption von Winnetou und das Geheimnis vom Silbersee – ein erschreckend schlechter, doch erstaunlich gut besetzter Film.
Große Reisen und eine vielseitige Karriere
Die Mohlstraße nahe der Tropenklinik geht auf Ottmar von Mohl (1846-1922) zurück. Der gebürtige Tübinger studierte Rechtswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität und promovierte an der Uni Heidelberg. Mohl war unter anderem Kabinettssekretär der ersten deutschen Kaiserin Augusta, aber reiste zeit seines Lebens auch viel als Diplomat – er besuchte gemeinsam mit seiner Frau die USA, Russland und Japan. In Japan fungierte er als Berater des kaiserlichen Haus- und Hofministeriums in Tokyo.
Die in der Südstadt gelegene Schweickhardtstraße kann sich ebenfalls eines bekannten Namensvertreters rühmen. Eduard Schweickhardt (1805-1868) stammte aus einer nicht-akademischen Familie Tübingens – sein Vater war Konditor – und studierte Philosophie und Bergbau an der Universität. Seine Karriere ist recht abstrakt: nach Beendigung seines Studiums war er kurze Zeit als Stadtrat in Tübingen tätig, kaufte und führte zusammen mit seinem Bruder Heinrich eine Getreidewassermühle neben dem Haagtor, promovierte dann noch an der Uni Tübingen und arbeitete dort als Privatdozent.
Tübingens Straßennamen sind mit Sicherheit ein unerschöpfliches Thema, es gibt noch viele mehr zu nennen und die getroffene Auswahl repräsentiert nicht die Vielfalt an spannenden Persönlichkeiten der Stadt. Neugierige können sich aber selbst im herrlichen Sommerwetter auf den Weg machen und nach Herzenslust die berühmten Namensgeber*innen der Gässchen und Straßen recherchieren – ein Stadtspaziergang ganz anderer Art.
Alle, die durchs Lesen auf den Geschmack gekommen sind und Tübingens Stadtgeschichte weiter erkunden möchten, sind herzlich eingeladen, sich die neue Kupferblau-Printausgabe auf der Wilhelmstraße abzuholen oder sich in den Unigebäuden eine Ausgabe zu nehmen.
Titelbild: Sophie Traub