Politik

Tübingen im Nationalsozialismus: Was hättest du getan?

Eine Elfenbeinbrosche mit Metallumrandung. Eine Kuchenform. Ein Bildband über die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Alles unscheinbare Objekte, die man auf einem Dachboden wie diesem erwarten würde. Doch dieser Dachboden ist kein normaler, denn er befindet sich im Stadtmuseum Tübingen. Die Objekte gehören zum „Room of Memories“, einer Art Escape Room, der in der Dauerausstellung des Museums eingerichtet wurde.

Oft fällt es uns schwer, die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 nachzuvollziehen. Berlin ist weit weg, und wir haben wenig zu tun mit Hitler und den anderen ranghohen Mitgliedern des NS-Regimes, daher erscheint uns diese Zeit eher abstrakt. Es ist jedoch wichtig, daran zu denken, dass die meisten Betroffenen dieser Zeit ganz normale Menschen waren, Studierende, Eltern und Kinder, Arbeiter*innen: Menschen wie wir. Da stellt sich die Frage: Was hätte ich getan?

Gerümpel oder Geschichte?

Ob Opfer, Täter*innen, oder Mitläufer*innen, alle waren gezwungen, sich jeden Schritt gut zu überlegen, da Konsequenzen jeder Handlung unter dem totalitären Nazi-Regime schwer abzuschätzen waren. In genau diese Situation wird man im „Room of Memories“ gebracht. Dieser ist jedoch kein normaler Escape Room, bei dem man Rätsel löst und versucht, einen Schlüssel oder ähnliches zu finden. Es geht nämlich nicht um die Flucht aus dem Raum, sondern um die Interaktion mit diesem.

Die Objekte in dem Raum stammen aus der Zeit zwischen der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Nachkriegszeit in Tübingen. Beim Eintritt finden die Besucher*innen, je mit einer Taschenlampe ausgestattet, inmitten der Objekte einen sprechenden Spiegel, der sie bittet, Platz zu nehmen. Im Folgenden wird man gebeten, sich je einen Gegenstand aus dem Zimmer auszuwählen, denn zu jedem Gegenstand gibt es eine Geschichte. So erzählt die am Anfang erwähnte Metallbrosche von der Tübinger Jüdin Charlotte Pagel, die diese an die Tochter ihrer Nachbarn verschenkte. Sie war sich der Gefahr, in der sie schwebte, bewusst, und wollte ihren wertvollsten Gegenstand jemandem geben, der darauf aufpassen würde. Pagel wurde 1942 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Ein Bundesverdienstkreuz und ein Modell der “Wilhelm Gustloff”, einem Passagierschiff unter Flagge des Deutschen Reiches, das 1945 durch einen sowjetischen Torpedo in der Ostsee versenkt wurde.

Während der Spiegel die Geschichten der Gegenstände erzählt, werden die Zuhörenden regelmäßig aufgefordert, ihre eigene Haltung zu hinterfragen: Was hättet ihr in der Rolle der Nachbarin getan? Denkt ihr, euer Verhalten hätte euch geschadet oder wäre euch zugutegekommen? So findet man sich plötzlich selbst gezwungen, zu entscheiden, und die Geschichte wird lebhafter, als wenn man diese nur durch einen Glaskasten in einem Museum erlebt. Da die Geschichten der Gegenstände wahr sind, ist es sehr spannend, zu hören, wie die Menschen in unserer Stadt diese Zeit erlebt haben. Zwischen den Erzählungen zeigt der Spiegel kurze Filmsequenzen von Nazi-Veranstaltungen und Märschen in Tübingen, und beim Anblick der Hakenkreuzflagge vor dem uns allen bekannten Tübinger Rathaus kann es einem schon etwas mulmig zumute werden.

Der Eintritt zum „Room of Memories“ ist frei, ein Besuch lohnt sich also.

Fotos: Max Maucher

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert