Tagtäglich kommen wir an Orten vorbei, die nach historischen Persönlichkeiten benannt wurden. Doch wer waren diese Menschen und was leisteten sie, dass Straßen, Plätze und Denkmäler zu ihren Ehren erbaut wurden? Heute widmen wir uns der Königin unter den Tübinger Straßen und begegnen dort dem König der Schwaben.
Was für New York der Broadway, für Paris die Champs-Élysées oder für Oz der gelbe Ziegelsteinweg, ist für Tübingen gewiss die Wilhelmstraße. Die Mutter aller 40er-Zonen zieht sich als ein langes Band vom Lustnauer Tor, dem Epizentrum des Tübinger Partylebens und Eingang zur Altstadt bis nach Lustnau, dem Epizentrum und Eingang … naja Lustnaus. Statt des Times Squares, schicken Boutiquen oder sprechenden Vogelscheuchen ist der Weg hier gesäumt von allem, was die Tübinger*innen in ihren Herzen tragen: Dem Bota, der Neuen Aula, dem Brechtbau, dem Schiebeparkplatz und dem Metzger der schon seit geschätzten 130 Jahren auf seinem riesigen Plakat für seinen „El Kawé“ wirbt.
Stattlich und würdevoll kommt auch der Name daher: Wilhelm. Der Namensgeber liegt da in Deutschland, Kaiser Wilhelm II. sei Dank, auf der Hand. Doch Vorsicht ist geboten, hat sich hier doch tatsächlich ein anderer Wilhelm noch vor der Regentschaft des Kaisers Wilhelm namentlich verewigt. König Wilhelm I. von Württemberg war es, der im 19. Jahrhundert, als auch die Wilhelmstraße von einem historischen Pfad zu einer wahren Straße ausgebaut wurde, lange Zeit über das Ländle herrschte und seinen Namen nebenbei auch direkt dem Stuttgarter Zoo und dem Tübinger Wilhelmsstift überließ.
Die wilde Jugend
Als König der Schwaben führte Wilhelm durch eine durchaus aufregende Zeit und obwohl er dabei zunächst wenig, wie ein Schwabe auftrat, erfüllte er diese Rolle genau wie seine Rolle als Monarch mit fortschreitendem Alter bestens. Oder kurz: Er wurde ein Ordnungsfanatiker und heiratete mehrere Verwandte. Doch der Reihe nach.
Geboren wurde Friedrich Wilhelm Carl, König von Württemberg am 27. September 1781 in Lüben in Schlesien, fernab seines späteren Herrschaftsgebietes in der Garnison seines Vaters. Dabei pflegte er in den ersten Jahren seines Lebens noch einen eher studentischen Lebensstil, war also bis zu seinem 28. Geburtstag zumeist arbeitslos. Von einer genetisch vererbten „Schaffe-Schaffe-Schlössle-baue“-Mentalität war da noch wenig zu spüren. Gepaart mit seinem aufmüpfigen Gemüt bahnte sich in Württemberg daher eine aufregende Zukunft an.
Diese Zukunft wollte es Wilhelm beim Aufbau des eigenen Vermächtnisses dann jedoch alles andere als leicht machen. So bestieg er den Thron im Jahre 1816, dem „Jahr ohne Sommer“, und sah sich sofort mit Ernteausfall und Hungersnot konfrontiert.
Während diese schwierige Zeit bereits das Wohlwollen des Volkes in die Ferne rücken ließ, zeigte Wilhelm seinen politischen Spürsinn und fand einen Weg zusätzlich auch den Adel gegen sich aufzubringen. Dieser litt zwar weniger unter den Ernteausfällen, empörte sich jedoch schrecklich über eine neue Verfassung. Entgegen der alten Ständegesellschaft sollte diese einer Volksversammlung zunehmenden Einfluss gewähren und wurde von Wilhelm gegen die Ablehnung des Adels einseitig durchgesetzt. Und so gelang es ihm zu dieser Zeit zwar noch den Unmut aller Menschen im Ländle auf sich zu ziehen, gleichzeitig jedoch auch den Staatsapparat zu modernisieren.
Ordnung im Ländle
Wilhelms Talent, andere gegen sich aufzubringen, machte wie seine Aufmüpfigkeit nicht an den eigenen Grenzen halt. So wehrte er sich auch gegen den immensen Einfluss der Großmächte Preußen und Österreich im deutschsprachigen Raum, was Wilhelm einen Ruf als unbeherrschten und verdorbenen Herrscher einbrachte. Erst später gelang es ihm, sich das Ansehen zu erkämpfen, das ihm letztlich zu mehreren Namenspatenschaften verhalf. Seine Aufmüpfigkeit wich, während seine schwäbischen Tugenden hervortraten. Mit der Zeit entfalteten die voranschreitende Bürokratisierung und der Ausbau des Beamtentums ihre Wirkung.
Als ob Bürokratie und Beamtentum alleine nicht genug wären, um die Herzen des schwäbischen Volkes zu gewinnen, blühte die Landwirtschaft unter ihm auf und Wohlstand häufte sich im Ländle an.
Auch das Aufbauen von Netzwerken gelang Wilhelm. Nach einer Ehe mit Charlotte von Bayern entdeckte er, wie es sich für einen wahren Monarchen gehört, die eigene Familie für sich und heiratete zunächst seine Cousine Katharina, Schwester von Zar Alexander I., zu dem Wilhelm gute Beziehungen unterhielt. Nach ihrem Tod versuchte er es erneut mit einer Cousine, diesmal Pauline von Württemberg. Er ließ sich zudem doch noch zu besseren Beziehungen zu Preußen hinreißen und konnte Napoleon Bonaparte seinen Schwippschwager nennen. Einzig das Verhältnis zum österreichischen Kaiser Franz II. mag mit Irritationen verbunden gewesen sein, heiratete dieser später Wilhelms I. Frau Charlotte nachdem er sich von Wilhelms Tante scheiden ließ. Zweifel am Unterhaltungswert der Familienfeste wären in jedem Fall unangebracht.
Leider konnte Wilhelm sein positives Bild im Volk nicht bis zuletzt erhalten und das Wohlwollen versiegte. Als sein jugendlicher Eifer verloren ging, zeigte sich eine zunehmende Scheu vor neuen Aufgaben. Gerade in Zeiten des Geistes der Französischen Revolution war dies gefährlich. Und obwohl anfängliche Reformen noch erfolgsversprechend waren, ging auch das Volk Württembergs auf die Straße und verhalf bei Wahlen der radikalen Linken zur Mehrheit. Hierbei handelt es sich offenkundig um den einzigen Augenblick der gesamten Geschichte Württembergs, der einen Hinweis darauf gab, dass hier einmal der erste Grüne Ministerpräsident gewählt werden würde.
Wilhelm jedenfalls zog sich im Angesicht aufkommender Krisen immer öfter ins Ausland zurück. Diese Fluchtversuche sorgten allerdings nur für weiteren Unmut. Seine neue Strategie stetig weiterverfolgend, entdeckte das württembergische Schlitzohr bei der drängenden Schleswig-Holstein-Frage, die letztlich zum Deutsch-dänischen Krieg führte, dann aber noch einen letzten Ausweg und starb 1864. Beerdigt wurde er in der Grabkapelle auf dem Württemberg, letztlich doch in positivem Andenken an die Reformen und den wirtschaftlichen Aufschwung zu seiner Zeit. Das größere Denkmal findet sich dennoch sicherlich in Tübingen und stellt mit seiner ewigen mehrspurigen Einbahnstraße entlang der Universitätsgebäude wohl die größte Hommage an sein Lieblingsthema: Ordnung.
Titelbild: Maximilian Hansche
Foto: Wilhelmstraße. Quelle: Ansichtskarten-Center [CC BY-SA 3.0 DE] via TuePedia