In Tübingen gibt es seit neuestem zwei Spätis. Was in ostdeutschen Großstädten Tradition hat, findet nun also Einzug ins beschauliche Tübingen. Warum gerade jetzt, wo die Kiez-Treffpunkte in Berlin und anderswo doch immer mehr von Gentrifizierungs-Effekten bedroht sind? Der Versuch einer Einordnung.
Zum ersten Mal hörte ich Ende Oktober davon, dass in Tübingen zwei Spätis eröffnet werden sollten. An einem Wochenende war ich abends unterwegs, mit dabei: Besuch aus Bonn. Ob es hier irgendwo einen Späti gebe, fragte er ganz selbstverständlich, mit dem Bedürfnis nach einem erfrischenden Getränk. Fast absurd fand ich diese Frage, war Tübingen doch fast mehr Dorf als Stadt. Sowieso ist mir das Konzept „Späti“ eher aus Mittel- und Nord-, aber vor allem aus Ostdeutschland bekannt. Mein Bekannter ließ es sich trotzdem nicht nehmen, selbst noch einmal nachzugoogeln und, nun ja, Tatsache, da stand es ganz klar und deutlich: „Der erste Späti in Tübingen“! In den folgenden Tagen stieß ich auch auf den Instagram-Auftritt des „Spätschicht“-Ladens. Hip und durchdacht kam der daher, mit Corporate Design, professionell anmutendem Logo und Imagefilm im Reel-Format – dass hier jemand genau wusste, wie sich die Idee Tübinger Späti vermarkten lässt und dafür zumindest ein wenig Geld in die Hand genommen hatte, war klar. Sprüche wie „Großstadt-Vibes in Tübingen“ machten das Bild komplett: Die Studierenden im behüteten Tübingen sollten sich auch einmal fühlen dürfen, wie in Berlin auf dem Weg ins Berghain.
DDR und Kiezkultur: Ursprünge der Spätis
Ursprünglich sind Spätis ein Produkt der DDR: Für Schichtarbeiter*innen, die sich spät nachts auf den Heimweg machten, wurden sogenannte Spätverkaufsstellen eingerichtet, um sie auch dann noch mit dem nötigsten zu versorgen. Nach der Wiedervereinigung etablierten sich die dann Spätkauf oder eben Späti genannten Geschäfte als Treffpunkt und allgemeine Anlaufstelle für Nachtschwärmer*innen, Anwohner*innen und Co. Betrieben wurden und werden sie oft von arabischen oder asiatischen Familien. Immer noch sind sie typisch für Berlin und andere ostdeutsche Großstädte, aber auch für meinen Bekannten aus Bonn sind sie Normalität. Sie sind Teil der Berliner Kiezkultur, im Stammspäti werden, so hört man, oft nicht nur Kauf und Verkauf, sondern bisweilen auch die Neuigkeiten aus dem eigenen Leben besprochen. Eine Broschüre über urbanen Aktivismus im Kiez beschreibt einen Berliner Späti als „Anlaufort für Jugendliche, Sozialschwächere und Unangepasste“. Spätis beleben in Großstädten das Stadt- und Nachtleben – können sie das auch in Tübingen?
Gentrifizierung und Rechtsunsicherheit: Spätis sind bedroht
Etablierte Spätis in Großstädten sind, und das wohl gerade aufgrund ihres lebendigen, Begegnungen fördernden Charakters, auch von Gentrifizierung betroffen. Berichte über Demonstrationen für den Erhalt von Spätis häufen sich, Mietpreiserhöhungen und Mietvertragskündigungen zugunsten profithungriger Immobilienkonzerne machen Mieter*innen aller Art, und so auch Spätibesitzer*innen, zu schaffen. Zudem leiden viele Spätis unter einer gewissen Rechtsunsicherheit, die aus den Gesetzen zu den erlaubten Ladenöffnungszeiten hervorgehen. In Sachsen taucht das Phänomen „Späti“ in den Gesetzestexten beispielsweise nicht auf, sodass die Vorgaben nicht klar geregelt sind. Das setzt die Spätis der Willkür einzelner Ordnungsamtsbeamt*innen aus und macht sie anfällig für die Beschwerden einzelner. So beispielsweise in Berlin, wo eine Einzelperson 2012 gleich 48 Spätis wegen nicht eingehaltener Öffnungszeiten anzeigte. Gerade im Kontext der Gentrifizierung dürfte diese Unsicherheit der Stadtverwaltung jedoch genehm kommen, denn sie erleichtert Kontrolle. Wenn sich die Bevölkerungsstruktur eines Viertels wandelt, sind die urigen Spätis dort vielleicht irgendwann nicht mehr erwünscht. Was für die jungen Hipster, die Vorboten der Gentrifizierung, noch zum Charme einer Gegend beitragen und anziehend wirken mag, muss dann eben doch der minimalistisch-rustikal eingerichteten Kaffeerösterei oder dem urbanen Co-Working-Space weichen. Der Treffpunkt, der „Anlaufort für Jugendliche, Sozialschwächere und Unangepasste“, der nur für Unruhe und Lärm auf der Straße sorgen würde, passt da nicht mehr rein.
„Späti“ – das sagt sich leicht in einem Atemzug mit „Vintage-Klamotten“ und „schnelle Brille“.
Während die Spätis, die einst den Mythos des lebendigen und alternativen Treffpunkts angeregt haben, also langsam vertrieben werden, bekommen wir in Tübingen die bereits gentrifizierte Version des Großstadtidylls aufgetischt. Die Einrichtung des „Spätschicht“-Kiosk ist hip, rustikal, modern, gewollt: Im Schaufenster steht ein Bianchi-Fahrrad, das laut Inhaber Onur Sönmez Nostalgie vermitteln soll. Sönmez und sein Co-Geschäftsführer Onur Durmus sind erfahrene Unternehmer. Zusammen genommen haben die beiden acht Firmen, Durmus ist beispielsweise CEO einer Modelagentur. Sönmez betreibt unter anderem den Reutlinger Club „Area 14“, 19 Corona-Teststationen in ganz Baden-Württemberg und seit neuestem die Bar „Friedrich’s“. Ein kleiner Familienbetrieb ist die „Spätschicht“ also nicht: 20 bis 25 Angestellte sind als Kiosk-Team angedacht. Sowieso wird aus dem Laden kein uriger Treffpunkt entstehen können, denn das Aufkommen einer „Treffpunktmeile“ müssen die Betreiber auf Wunsch der Stadt unterbinden, wie mir Sönmez erzählt. „Unser größter Partner ist ganz klar die Stadt Tübingen, da müssen wir auch mal Spielverderber sein“.
Auch Kultur kann zur Ware werden
Na klar – in die studentische Hipster- und Ökostadt Tübingen passt der aufgemotzte Kiosk schon, verkörpert er doch genau die Ideale, die wir Neckarstudis anstreben, aber doch irgendwie nicht ganz erreichen können. Der Späti steht dann für eine großstädtische Freiheit und Gelassenheit, „Späti“ – das sagt sich leicht in einem Atemzug mit „Vintage-Klamotten“ und „schnelle Brille“.
Was hier passiert, ist die Kommodifizierung der Späti-Kultur. Kommodifizierung bedeutet einfach gesagt, dass im marktwirtschaftlichen System eigentlich alles, was es gibt, zur Ware gemacht werden kann. So zum Beispiel auch Kultur. Mit der Verbreitung des „Mythos Späti“ als hippem, alternativen Treffpunkt wird die einst aus bestimmten lokalen Bedingungen gewachsene Späti-Kultur zu einer Ware, die sich super an den „links-grün-versifften“ Tübinger Studi verkaufen lässt. So etwas passiert ständig. Meist sind es einzelne, gut vermarktbare Aspekte einer ansonsten minoritären Kultur, die dann ganz groß rauskommen. Beispiel: Die allseits beliebte TV-Show Rupaul’s Drag Race. Hier werden Aspekte der aus der queeren Community des späten 20. Jahrhunderts entsprungenen Ballroom-Kultur zur Schau gestellt und extrem erfolgreich vermarktet. Was zur damaligen Zeit einen Zufluchtsort für Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft darstellte, die sich von allen Bereichen der staatlichen Gewalt marginalisiert sahen, ist heute eine mit viel Glamour vermarktete Ware. Und ganz ähnlich geht die Geschichte der Spätis. In ihnen spielte und spielt sich Kiezkultur ab, ganz alltäglich und mit offenen Armen für Menschen, die sonst in der Gesellschaft oft weniger Platz finden. Außerhalb des Kiez-Biotops wird nur das übernommen, was sich verkaufen lässt: Die Einrichtung muss stimmen und eine Treffpunktmeile darf nicht entstehen. Was bleibt, ist kaufbare Kiezkultur.
Versteht mich nicht falsch, ich freue mich über die neuen Einkaufsangebote und eine Belebung der Innenstadt, soweit sie stattfinden kann. In meinen Gesprächen mit Medhanie Teweldeberhan, dem Besitzer des „Tübinger Späti“ und mit Onur Sönmez bekam ich den Eindruck, dass beide leidenschaftlich hinter ihren Projekten stehen. Auch an ihrem ehrlichen Anspruch, eine gewisse Späti-Kultur zu etablieren, ist eigentlich nichts verkehrt. Für Sönmez ist das ganz selbstverständlich: „Ich komme, ich sag‘ mal, vom Süden her, da ist die Späti-Mentalität fest verankert“. Obwohl der Slogan zum „Großstadtfeeling“ mir zunächst als reine Werbestrategie erschien, steht Sönmez auch mit seiner Überzeugung dahinter: „Nur weil wir nicht in einer Großstadt leben, heißt das nicht, dass wir das Großstadtfeeling nicht haben dürfen“. Aus der Sicht von Teweldeberhan eignet sich gerade Tübingen wegen des ausgeprägten Nachtlebens besonders als Späti-Standort. Am Konzept „Späti“ gefällt ihm, „dass man mitten im Geschehen ist und trotzdem das bekommt, was es im Supermarkt gibt“. Ich frage auch gar nicht nach vermeintlicher Authentizität. Ich kritisiere auf gesellschaftlicher Ebene, nicht auf individueller.
Sönmez wünscht sich für den „Spätschicht“-Kiosk auch ein „Füreinander und ein Miteinander“. Auch ein kommodifizierter Späti schließt das nicht unbedingt aus. Nur dürfen wir uns nicht einbilden, dass damit die Späti-Kultur nach Tübingen kommt. Es ist wahr, dass ein Hipster-Späti hervorragend nach Tübingen passt. In die Stadt, die zu einem Drittel aus Studierenden besteht und ansonsten für seine bürgerlichen Ökos, allen voran unserem OB, bekannt ist. Eine Stadt, die auch Gentrifizierung ausgesetzt ist – Stichwort: Cyber Valley. Wie so oft in der spätkapitalistischen Gesellschaft muss ich hier mit Widersprüchen klarkommen. Ich werde gerne in den beiden neuen Spätis einkaufen gehen, freue mich über die so späti-typische Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit, die mir bisher von den Inhabern entgegengebracht wurde. Gleichzeitig erkenne ich in den beiden Neu-Eröffnungen das Symptom eines größeren Problems, der Kommodifizierung einer Kultur. Genau wie Onur Sönmez bei der Umsetzung städtischer Vorschriften muss auch ich hier eine Spielverderberin sein: Kultur lässt sich nicht erkaufen.
Fotos: Sophie Vollmer
sehr interessante und kluge gedanken!