An einem fremden Ort sein, eine fremde Kultur kennenlernen. Aus der Komfortzone heraustreten und sich auch mal ins Unbekannte wagen – für die einen klingt es nach der puren Versuchung, für die anderen eher nach Abschreckung. Ich wusste lange nicht, welcher Gruppe ich mich zugehörig fühlte. Mittlerweile habe ich zwei Auslandsaufenthalte hinter mir und kann von mir sagen, dass die Versuchung gesiegt hat. Dabei war es für mich ein bisschen wie beim Autofahren: Übung macht die Meisterin. Ein Erfahrungsbericht.
Ganz meiner Generation entsprechend wollte ich nach der Schule für eine längere Zeit ins Ausland – egal wohin, Hauptsache fremd. Über die Organisation „Evangelische Freiwilligendienste“ bekam ich einen Platz als Freiwillige an der Deutschen Schule in Bratislava in der Slowakei. Voller Tatendrang, aber auch mit einer gehörigen Portion Unsicherheit und Unwohlsein brach ich im Jahr 2015 auf – möge das Abenteuer beginnen! Doch das stellte sich erst einmal als härter heraus, als ich angenommen hatte. Nachdem wir eine Woche lang in die Gepflogenheiten und Grundsätze der slowakischen Sprache und Kultur eingeführt worden waren, kam das erste freie Wochenende. Ich wachte samstagmorgens auf und bekam Herzrasen bei dem Gedanken, zwei komplett freie Tage vor mir zu haben. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, vor mir liege das längste Jahr meines Lebens. Ich brachte das Wochenende dank meiner drei Mitbewohnerinnen relativ gut rum, da wir gemeinsam auf erste Erkundungstouren gingen. Doch das komische Gefühl blieb. In der darauffolgenden Woche begann bereits meine erste Arbeitswoche. Plötzlich hatte ich wieder eine Perspektive und Struktur in meinem Leben. Es war relativ schnell klar, dass ich von Montag bis Freitag in der Schule aufgehoben sein würde und dort auch meine klaren Aufgabenbereiche hätte. Diese Aussicht beruhigte mich und ich konnte mich langsam mit dem Gedanken anfreunden, mir ein Leben an diesem neuen Ort aufzubauen. Und plötzlich war sie da: Diese Aufregung, weil alles so neu und unbekannt war. Jeder Schritt war auf einmal ein Abenteuer. Kein Tag war eintönig, es gab immer etwas zu entdecken. Ich machte mich auf in den Supermarkt und verschaffte mir einen ersten Überblick über die fremden Produkte, die es hier gab. Ich rätselte, was sich wohl hinter so manchem slowakischen Wort verbergen mochte. Es folgten die ersten Alleingänge in Cafés, Ausflüge ins Museum oder einfach nur ausgedehnte Stadtspaziergänge – für ein Landei wie mich war dieses Großstadtleben Aufregung pur. Mit der Zeit verlor ich auch mehr und mehr meine Nervosität vor dem Sprechen. Ich hatte festgestellt, dass ich in der Stadt sehr gut mit Englisch weiterkam, und da ich in meiner WG ausschließlich Englisch sprach, wurde ich mit jedem Tag sicherer. Mit mir arbeiteten noch zwei weitere Freiwillige in der Deutschen Schule. Da wir uns von montags bis freitags jeden Tag sahen, ergab es sich sehr schnell, dass wir auch die Wochenenden zusammen verbrachten.
Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass ich mich heimisch fühlte. Ich kannte die Stadt bereits etwas besser, ich hatte eine Arbeitsstelle, an der ich gebraucht wurde und ich hatte Menschen gefunden, in deren Gegenwart ich mich wohl fühlte und mit denen ich gemeinsam Pläne schmieden konnte. So kam es, dass ich am Ende meines Aufenthalts tatsächlich ein paar Tränen vergoss, als ich meine neue Heimat Bratislava wieder verlassen musste. Ich hatte ein Jahr lang Zeit gehabt, ein Land und eine fremde Kultur kennenzulernen und jeder Tag hatte etwas Neues mit sich gebracht.
Die Sehnsucht nach dem Unbekannten
Obwohl ich anfangs mit Heimweh zu kämpfen gehabt hatte, wusste ich, dass ich dieses Abenteuer wieder einmal erleben wollte. Und so kam es, dass ich 2019 beschloss, das Abenteuer Erasmus anzugehen. Ich hatte einige Zeit gebraucht, das richtige Studium für mich zu finden und so war es schon wieder eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal im Ausland war. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon, wo es hingehen sollte – Hauptsache unbekannt. Und so landete ich im Januar 2020 schließlich in der Hauptstadt Finnlands, in Helsinki. Schon im Voraus hatte ich gemerkt, dass ich anders aufgeregt war als noch vor der Slowakei – die Angst fehlte. Ich freute mich ganz einfach darauf, wieder einmal den Kick der Fremde zu verspüren. Vor meiner Abreise wurde mir bereits ein WG-Zimmer in einem Studentenwohnheim zugeteilt. Daher wusste ich schon vorher, dass ich in einer Dreier-WG leben würde. Wie ich das bereits aus der Slowakei kannte, gab es eine Einführungswoche, in der alle wichtigen Dinge geklärt wurden und die Möglichkeit bestand, andere Studierenden kennenzulernen. Ich versuchte, die Sache so entspannt wie möglich anzugehen und mir keinen Stress zu machen. So war ich anfangs sogar eher darauf bedacht, mir auch manchmal meine Freiräume zu schaffen, um nicht gleich komplett in der Erasmus-Blase zu verschwinden. Ich hatte das große Glück, dass ich mich mit einer meiner Mitbewohnerinnen sehr gut verstand. Wir hatten in der Einführungswoche quasi dasselbe Programm und so verbrachten wir von Anfang an sehr viel Zeit miteinander. Ich war außerdem deutlich entspannter, was die Kommunikation anging, da ich mich mit der Kommunikation auf Englisch mittlerweile sehr sicher fühlte. Ähnlich wie in Bratislava war es zudem kein Problem, sich in der Stadt auf Englisch zu verständigen, wodurch die Sprache fast kein Hindernis mehr darstellte. Das erste Mal einkaufen gehen war wie ein Flashback in meine Zeit in der Slowakei – ich verspürte die gleiche Aufregung beim Anblick der fremden Produkte und der fremden Sprache.
Vertraute Methoden
Die Tatsache, dass ich schon einmal längere Zeit im Ausland gelebt hatte, machte sich in vielen Bereichen bemerkbar. Ich wusste genau, was ich tun konnte, um mir das Einleben so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich nutzte meinen Stundenplan und die Lernzeiten in der Uni, um mir eine Struktur in meinem Alltag zu schaffen. Bereits am ersten Wochenende nahm ich mir vor, eines der Stadtviertel näher zu erkunden und es sollten noch weitere Wochenende folgen, an denen ich dieses Vorhaben fortsetzte. Mit meiner Mitbewohnerin plante ich relativ schnell erste Ausflüge außerhalb der Stadt, wie zum Beispiel einen Tagestrip nach Estland. In der Slowakei hatte ich gegen Ende meines Aufenthalts das Gefühl gehabt, die Anfangszeit nicht genug genutzt zu haben und diesen Fehler wollte ich nicht noch einmal machen. Als mein erster Monat vorbei war, merkte ich, dass ich mich bereits wie zu Hause fühlte. Ich kannte mich in der Uni aus, die Stadt war mir bereits vertrauter, ich hatte schon Lieblingsprodukte im Supermarkt entdeckt und merkte, wie ich mir langsam einen Freundeskreis aufbaute. Meine Wochenenden bestanden durchwegs daraus, neue Dinge zu entdecken. Als ich meine ersten Wochen in Finnland reflektierte, stellte ich voller Erstaunen fest, dass ich noch kein einziges Mal Heimweh verspürt hatte.
Die Herausforderung Corona
Mit dem Pandemiebeginn im März reiste ein Großteil der Erasmusstudierenden ab. Zu meiner Erleichterung blieben die meisten meiner Freunde und Freundinnen in Helsinki. So bildete sich relativ schnell eine „Gruppe der Zurückgebliebenen“, mit der ich den Rest meiner Zeit in Finnland verbrachte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich trotz Lockdown in Finnland geblieben wäre, wenn ich genauso lang für das Ankommen gebraucht hätte, wie damals in der Slowakei. Da ich mir aber durch meine Erfahrungen des ersten Auslandaufenthalts vieles von Anfang an leichter machen konnte, blieb ich – trotz der kurzzeitigen Weltuntergangsstimmung – vor Ort.
Wie geht es weiter?
Nun bin ich bereits seit einem dreiviertel Jahr wieder in Deutschland und die momentane Lage trägt nicht gerade dazu bei, mein Fernweh zu mildern. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wieder eine längere Zeit ins Ausland zu gehen und bin bereits am Überlegen, in welchem Rahmen es als nächstes möglich wäre – vielleicht noch einmal ein Semester Erasmus oder vielleicht sogar schon als Berufstätige? Es ist ein unglaublich spannender Prozess, an einem anderen Ort ein neues Leben aufzubauen. Vor allem, wenn eine andere Kultur und Sprache dazukommen. Nichtsdestotrotz ist es auch mit sehr vielen Anstrengungen verbunden, da so vieles noch unbekannt ist und Freunde und Familie nicht eben mal schnell besucht werden können. Ich für meinen Teil kann jedoch sagen, dass die Eindrücke und Erfahrungen, die am Ende des Tages gewonnen wurden, jede Anstrengung wieder wett machen.
Fotos: Julia Gonser