Die Kirche ist eine wichtige kulturelle Institution, in der Menschen zusammenkommen und ihren Glauben gemeinsam feiern. Wie für viele andere Institutionen blieb die Corona-Pandemie auch für diesen Bereich nicht ohne Folgen. Kupferblau im Gespräch mit dem Tübinger Pfarrer und Vorsitzendenden der katholischen Gesamtkirchengemeinde Ulrich Skobowsky über die Auswirkungen der Pandemie, neue Ansätze für Gemeinschaft und den Mut zum Optimismus.
Herr Skobowsky, können Sie unseren Leser*innen erläutern, was alles in Ihren Arbeitsbereich fällt und wie sich Ihre Arbeit im Zuge von Corona verändert hat?
Mein Problem ist ein bisschen anders gelagert als das eines durchschnittlichen Pfarrers in meiner Situation, weil ich mitten im Corona-Modus angefangen habe. Ich bin erst am 08. November investiert worden, war aber bis Juli Pfarrer und auch Dekan in Bad Mergentheim. Ich bin also Pfarrer der katholischen Gesamtkirchengemeinde Tübingen, die flächenmäßig ein wenig größer ist als die evangelische, da bei uns sämtliche Tübinger Teilorte und Stadtteile dazuzählen. Und ich bin natürlich nicht allein. Hinzu kommen noch zwei ausländische Mitbrüder – also Priester, die ein Promotionsstudium in Tübingen machen, einer ist aus Indien, einer aus dem Kongo. Und dann habe ich natürlich ein Team von verschiedenen Diensten, sowie ein Heer von Ehrenamtlichen, die eben die tragende Schicht gemeindlicher Arbeit sind.
Vieles der ehrenamtlichen Arbeit findet dann abends oder am Wochenende in Gremiumssitzungen, Ausschusssitzungen oder Besprechungen statt. Das zum Beispiel hat sich durch die Corona-Zeit dramatisch verändert. Damals, als es losging, hat man aus der Schockstarre heraus alles abgesagt – bis wir gemerkt haben, dass das nicht geht, da man Sachen besprechen muss, auch wenn gerade keine Gottesdienste stattfinden. Und da ging es natürlich mit Zoom und Co los. Das ist ja mittlerweile der Normalfall. Der Vorteil davon ist, dass du das Gesicht vor dir hast, statt nur irgendwelche Masken, wie wir es in Präsenzsitzungen schon erlebt haben. Der Nachteil ist, dass eine gewisse Interaktion nicht stattfindet und dass man die Zwischentöne nicht mitbekommt. Das Schwätzle zwischendrin oder danach oder davor findet so nicht statt, da man sich pünktlich trifft und einen Brummschädel hat, wenn man fertig ist.
Je nachdem, wie man es zählt, hat das kirchliche Wirken drei Säulen. Das eine ist die Liturgie, also die Gottesdienste, die seit Weihnachten ausgesetzt sind. Hier versuchen wir, alternative Onlineangebote wie Streaming-Gottesdienste anzubieten. Als zweites gibt es die Martyrie, also das Zeugnisgeben. Dafür gibt es mittlerweile Online-Gesprächsgruppen. Und als drittes die Diakonie, was bedeutet, für andere Menschen da zu sein. Das fängt damit an, dass ich Altenbesuche mache, beziehungsweise mich mit einsamen Menschen treffe und mit ihnen rede, bis hin zur Armenspeisung. Das meiste davon kann nicht stattfinden. Stattdessen gibt es teilweise erstaunliche Sachen, wie zum Beispiel eine Spiel-Aktion in Bühl, bei der Jugendliche Päckchen gepackt und an Familien im Ort verteilt haben.
Also würden Sie sagen, dass sich der Begriff, den Sie von kirchlicher Gemeinde haben, verändert hat?
Total. Ich würde das an einer Zahl deutlich machen. Den Gottesdienst zum Dienstantritt nennt man konfessionsübergreifend Investitur, also wörtlich „Einkleidung“. Der Gottesdienst am 08. November war als Gottesdienst der gesamten Seelsorgeeinheit mit hunderten Leuten und anschließendem Fest und Bewirtung gedacht. Das war so nicht mehr möglich. Offiziell konnten etwa 70 Leute eingeladen werden, damit zum Beispiel Sängerinnen auch noch mit dabei sein konnten.
Der Live-Stream wurde ungefähr von 1800 Leuten angeklickt. Zum Vergleich: Beim Gottesdienst wären unter normalen Umständen vielleicht 400 bis 500 Personen dagewesen. Man kann natürlich nicht sagen, dass jeder Klick dann bedeutet, die gesamten zweieinhalb Stunden angeschaut zu haben. Zudem gibt es auch Familien, wo dann ein Klick vier Personen bedeutet. Ich weiß aber von unserer jüdischen Wahlverwandtschaft in Israel, dass diese sich das genauso angeschaut hat wie andere aus Argentinien. Also da wird plötzlich Gemeinde auf einer globaleren Ebene definiert. Und das ist schon erstaunlich, sodass ich mich frage, wie weit wir gewisse Angebote grundsätzlich überdenken müssen und ob diese nicht auch so weiterlaufen können.
Also denken Sie, dass Sie trotz dieser Krise etwas Positives herausnehmen können, also dass sie beispielsweise digital so weitermachen können?
Glaube ich schon. Man muss daran denken, wie viele Kinder und Erwachsene vor Corona mit tausenden Engagements total überbucht waren. Es gibt auch das Phänomen, dass Leute, die bis jetzt die letzten 70-80 Jahre keinen Gottesdienst verpasst haben, plötzlich nicht mehr kommen, weil es sozusagen nicht auffällt, wenn man nicht da ist. Das ist verrückt. Insofern trennt sich die Spreu vom Weizen, weil die Menschen jetzt ehrlicher mit der Einschätzung ihrer Bedürfnisse sind. Es kann gut sein, dass künftig eher die Leute kommen, die sich aus tiefster Überzeugung engagieren.
Wie von Ihnen bereits erwähnt, konnten ab dem 31.01 unter strengen Hygienemaßnahmen wieder Gottesdienste stattfinden. Ich war letztes Jahr selbst einmal im Gottesdienst und es war ein etwas surreales Erlebnis: Am Kircheneingang gibt man die Kontaktdaten ab und während des gesamten Gottesdienstes trägt man die Mund-Nasen Bedeckung. Aufgrund der Aerosole ist das Singen untersagt und die Kommunion ist am Platz einzunehmen. Trotzdem ist man froh, in dieser Gemeinschaft zu sein. Wie ist das für Sie als Pfarrer? Was für eine Planung steckt dahinter?
Ich persönlich habe Musikabitur gemacht und immer schon gerne gesungen. Und das Singen fehlt wirklich sehr. Es gibt so einen alten Spruch:
„Wer singt, betet doppelt.“
Also nicht in dem Sinne, dass es mehr Wert hat und man doppelt so schnell in den Himmel kommt, sondern, dass Singen und Musizieren ganz viel an Emotionen freisetzt. Mund-Nasen-Schutz und Abstände sind im Grunde das Gegenteil von dem, was Christentum sein möchte: Nähe und Berührung. Gott sei Dank haben wir in Tübingen die Situation, dass wir praktisch in allen Gemeinden Menschen haben, die stellvertretend für die anderen Musik machen.
Es ist klar, dass wir uns unserer Rolle in der Gesellschaft bewusst sind, aber wir sind trotzdem solidarisch mit anderen Gruppen, die nichts mit Religion zu tun haben. Deswegen ist es absolut daneben, Privilegien auszuspielen. Corona hat eine gewisse Bescheidenheit hervorgebracht und so müssen wir auch auftreten. Gleichzeitig müssen wir vielleicht nochmal stärker hervorheben, dass Gottesdienst der Dienst an den Menschen ist.
Wenn Sie jetzt von Gruppen sprechen, die „ausgebremst“ werden, während sie hingegen wieder aufmachen dürfen: Es gab ja auch in den letzten Monaten die Debatte, in der behauptet wurde, dass die Kirche „systemrelevant“ sei und da gab es Kritik und Empörung von anderen kulturellen Institutionen, die ebenfalls ein Gefühl von Gemeinschaft bieten. Was unterscheidet die Kirche denn von anderen kulturellen Institutionen?
Hier muss man aufpassen, dass man sich mit seiner Argumentation nicht auf Glatteis begibt. Wie Sie gerade selbst gesagt haben, gibt es auch andere Organisationen, den Bereich der Kunst oder den des Sportes zum Beispiel. Unsere Kultur und die Geschichte Europas ist natürlich zutiefst religiös geprägt. Man konnte sich hier ein Leben ohne Religion gar nicht vorstellen und entsprechend waren Gesellschaft und Kirche aufs Engste miteinander verquickt. Dass es den Schutz der Ausübung der Religionsfreiheit gibt, ist aus meiner Sicht an die grundsätzliche Sinnfrage gebunden. Religionen basieren auf einer Art von Denken, die die Sinnfrage unserer Gesellschaft erhalten möchte. Und zwar nicht nur ´was ist gerade nützlich´, sondern im Sinne von ´wo komme ich her´, ´wo gehe ich hin´. Diese Privilegien in einer säkularisierten Gesellschaft aufzugeben oder zu kippen, hieße letztlich auch, sich komplett von diesen Wurzeln zu trennen. Man muss auch nicht alles von diesen Wurzeln gutheißen, aber es gehört einfach trotzdem dazu. Ich bin auch nicht mit allen in meiner Verwandtschaft dicke und trotzdem ist es meine Verwandtschaft.
Es geht um das Wachhalten von Sinn und man muss ja sagen, dass dieser Horizont in der Geschichte unseres Gemeinwesens unglaublich viel hervorgebracht hat. Ohne die Religion wäre ganz vieles heute gar nicht denkbar – angefangen bei der Wissenschaft über das Schulwesen bis hin zur Kranken- und Altenpflege. Viele der Heime waren auch in kirchlicher Trägerschaft, weil sich andere nicht beseligt haben oder nicht die Mittel dazu hatten.
Wer nichts tut, macht auch keine Fehler.
Und wo nichts getan wird, gibt es keine Fehler. Insofern steht die Kirche da natürlich mittendrin in der Gesellschaft, wo sie sich auch behaupten muss. Kirche ist insofern wichtig, um zu Beispiel den Schutz des Lebens anzumahnen – bis zur Sterbehilfe. Und da ist einfach Kirche sowas wie eine Wächterin, nicht von irgendwelchen altbackenen Werten, sondern von Leben. Umso schmerzlicher, dass im Kontext von Kirche so entsetzliche Sachen passiert sind und passieren – von sexuellem Missbrauch bis hin zu Machtmissbrauch im Allgemeinen.
Um speziell dieses Thema gab es auch große Kontroversen. Viele sind in den letzten Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil sie die Relevanz der Kirche anzweifeln oder das Bedürfnis sehen, Dinge aufzuarbeiten.
Das auf jeden Fall. Da bin ich ein bisschen kritisch. Jeder soll selbst entscheiden, was für ihn richtig ist. Aber, da muss ich sagen, gefallen mir Systeme wie in Italien oder Spanien, wo es keine explizite Kirchensteuer gibt, wo aber Menschen sich entscheiden müssen, wofür sie eine Sozialausgabe machen – ob das für die Kirche ist oder das rote Kreuz oder irgendeine andere Organisation. Aus der Kirche auszutreten, um im Zweifel Geld zu sparen, das gibt es in solchen Ländern nicht, weil es letztlich nichts bringt. Insofern ist es auch die verschlafene Aufgabe von Kirche, zu sagen, was alles nicht wäre, wenn Kirche sich in unserer Gesellschaft nicht engagieren würde – angefangen beim Erhalt von kirchlichen Gebäuden und sakralen Bauten bis hin zum breiten sozialen Engagement. Ob es Beratungsstellen sind oder letzte Auffangmöglichkeiten für Menschen, die durch alle Raster fallen: was hinter den Kulissen läuft, sehen viele leider gar nicht.
Es ist überhaupt vielschichtiger. Gerade, wenn eine gewisse Distanz gespürt wird, dann wird gefühlt alles über einen Kamm gescherrt. Wenn man dann mehr Kontakt mit Menschen hat, die aus anderen Gemeinden kommen, lernt man ganz normale Menschen, wie du und ich, kennen, die versuchen, ihr Zeug recht zu machen. Natürlich passieren da manchmal Fehler. Kirche ist vielgestaltiger, als man denkt.
Keiner von uns würde sich sozusagen als Vertreter des Staates bezeichnen. Und trotzdem werden wir, sobald wir die Grenzen übertreten, ganz einheitlich als Deutsche bezeichnet, egal, wo man herkommt. Ich habe nach dem Studium in Israel gearbeitet und da stehst du natürlich für alles, für die ganze Geschichte und Vergangenheit, gerade. Man muss dann immer wieder differenzieren, in welcher Beziehung man zu dem Ganzen steht. Dann merkt man, Stichwort Familie, dass es eine sehr differenzierte Position gibt, die man haben kann.
Da wir vorhin bereits über den digitalen Kontext gesprochen haben – gibt es Dinge, die Sie auf jeden Fall aus der Corona Krise beibehalten würden, Dinge, die Sie dazugelernt haben?
Ja, also beispielsweise dieser Lockdown an Ostern. Da waren ganz stark die Erstkommunionfamilien betroffen, die ja eigentlich in dieser Zeit ihr großes Fest gefeiert hätten. Es gibt einige Gemeinden in Tübingen, da haben die Erstkommunionkinder 19/20 immer noch ihren Gottesdienst nicht gehabt. Und da zum Beispiel, gab es dann Anleitungen, daheim miteinander Brot zu backen und Brot zu teilen und zu beten. Und das ist für mich so ein Punkt. Es gibt nicht mehr nur die Alternative, ob man sonntags in die Kirche geht oder im Bett liegen bleibt. Ich habe so oft von Eltern gehört, die sagen, dass Sonntag der einzige Tag ist, wo man als Familie miteinander frühstücken kann. Warum sollte man sich dann nicht auch miteinander um das Brot versammeln und beten? Und wenn dadurch so eine Bewegung oder eine gewisse Hausliturgie entstünde, fände ich das ganz kostbar. Es haben auch manche angefangen, mit der Nachbarschaft zu singen. Und das hat sich in manchen Kontexten bewährt. Ich habe von den digitalen Angeboten gesprochen und davon, dass wir vielleicht eine Kultur entwickeln müssen, Gottesdienste zu übertragen und neu zu gestalten. Ich denke, dass wir dadurch vielleicht etwas interaktiver werden können – und zwar ohne große Bühne, sondern im einfachen, alltäglichen Tun.
Welche Ängste haben Sie aufgrund von Corona und den Auswirkungen davon? Und darauf aufbauend: Welche Hoffnungen haben Sie? Welche Hoffnungen treiben Sie an, immer noch weiterzumachen, immer noch Leute in ihrer Gemeinschaft zu stärken?
Also vorab mal: Ich bezeichne mich immer gerne als unbelehrbaren Optimisten. Also da merke ich schon, dass sich da etwas verändert hat, schon vor Jahren. Ich hatte in meinen 30ern mehrere schwere Operationen – auch im Kopfbereich, wo es manchmal knapp war. Und vielleicht war es diese Erfahrung von Leiden oder Leid, die mich innerlich auch sehr frei oder angstfrei gemacht hat. Ich glaube, ich war noch nie so wenig ängstlich wie nach diesen gravierenden Erfahrungen. Das ist schon mal ein so ein Einstieg.
Kirche wird sich verändern – nicht nur durch Corona, sondern auch durch die Skandale und gewisse Unbeweglichkeiten sowie durch Protest und Kirchenaustritte. Und da habe ich gar keine Angst, weil ich merke: die Zeit wird zeigen, was unnötig oder überflüssig und als nicht wesentlich empfunden wurde oder tatsächlich war.
Wir wissen vieles nicht und da fällt mir immer wieder dieser Spruch von Vaclav Havel, dem früheren tschechoslowakischen Präsidenten ein, der sinngemäß gesagt hat:
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“
Und das ist meine grundsätzliche Lebenshaltung. Was wäre, wenn sich am Schluss jetzt herausstellt, dass das mit Gott alles nur eine Fiktion war? Dann möchte ich trotzdem so gelebt haben, dass ich sagen kann: das Leben hat Sinn gemacht und war voller sinnvoller Tätigkeiten und Beziehungen.
Ein passender Gedanke – auch für den Lockdown-Alltag. Herr Skobowsky, vielen Dank für das Gespräch.
Beitragsbild: Bachgasse Büro für Gestaltung Gbr