Egal, ob daheim oder auf der Busfahrt, ob spät nachts oder am frühen Abend – das Streamen von Filmen und Serien ist mittlerweile nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken. Doch was macht das mit unserer Wahrnehmung anderer Kulturangebote, insbesondere der des Theaters? Eine Spurensuche.
Heute war ein langer Tag. Komisch. Es ist erst 19 Uhr, doch man ist bereits so fertig wie sonst um 23 Uhr. Nach etlichen Online-Vorlesungen und Seminaren geht nichts mehr in den Kopf rein. Freunde treffen wäre jetzt nicht schlecht, doch es ist schließlich immer noch Lockdown. Naja, dann eben schnell eine Tiefkühlpizza des eigenen Vertrauens in den Ofen geschoben und gemütlich in die Kuschel-Ecke gechillt – denn es gibt ja zum Glück noch Netflix und Prime! Jeder noch so schwierige Tag kann gut enden, wenn man sich aufs Serienschauen am Abend freuen kann. So geht es wohl gerade den meisten von uns. Self-Care mit Stranger Things, Haus des Geldes und Co.
Zauber der Geschichten
Es sind die Geschichten, die uns packen, uns zum Lachen bringen, uns die Augen öffnen, Sehnsucht entfachen oder einfach nur Entspannung bieten. Es erübrigt sich zu behaupten, dass die Welt ohne solche Geschichten nicht dieselbe wäre. Der Historiker Yuval Noah Harari meint ja sogar, dass unsere Fähigkeit zum Geschichtenerzählen (und -glauben) das Element ist, was uns von Tieren unterscheidet. Darin zeigt sich nicht zuletzt auch die Bedeutung kulturellen Lebens über die Jahrhunderte hinweg. Als die Tragödien des Euripides unter der grellen Sonne des antiken Griechenlands aufgeführt wurden, strömten die Menschen aus der Polis regelrecht in die eigens dafür erbauten Amphitheater. Shakespeare schrieb sich mit seinen Dramen in das Herz der Weltliteratur und begeisterte damit längst nicht nur das damalige Publikum im Londoner Globe Theatre. Und jetzt? Jetzt gibt es Theater zum Anklicken.
Natürlich liegt es nahe, dass die Krise mit dem „C“ in weiten Teilen mit dafür gesorgt hat, dass die Anzahl der Netflix-Abos weiter ansteigt. Letztere Daten einer Statista-Erhebung weisen auch darauf hin – schließlich ist das Infektionsrisiko in der digitalen Sphäre nun einmal deutlich geringer als in der „analogen“. Doch der Trend zum Streamen war bereits in den Vorjahren – ohne Lockdown-bedingte Theaterschließungen – schon deutlich zu verzeichnen. Immer mehr Theatersitze blieben leer. Diese Tatsache ließ sich auch nicht mit einem vergrößerten Rahmenprogramm und mehr Inszenierungen kompensieren, was den hiesigen Intendanten wohl schon länger Kopfschmerzen bereiten dürfte. Aber wie kann dieser Trend wohl gesellschaftlich betrachtet werden?
Das Medium unserer Zeit
Klar ist, dass man beim Streaming örtlich und zeitlich ungebunden ist. Man muss keine Termine verschieben, kann auf eine Abendgarderobe verzichten und bequem vom heimeligen Kuschelsofa aus die Handlung auf dem Bildschirm verfolgen. Dank des Streaming-Algorithmus bekommt man direkt neue Vorschläge für Filme und Serien, die im Idealfall auch noch den eigenen, individuellen Präferenzen entsprechen. Da kann die Theaterlandschaft allein schon durch die limitierte Zahl an Inszenierungen nicht mithalten. Dazu kommt, dass man – anders als für gewöhnlich im Theater – keine Tickets pro Vorstellung erwerben muss, sondern sich dank des abgeschlossenen Abonnements von einem „All You Can Watch“-Buffet bedienen kann. Kurzum, in einer individualisierten Welt, in der wir allzu oft auf eine flexible Freizeitgestaltung angewiesen sind, rückt das Streamen von Filmen, Serien und Co. immer weiter in unser kulturelles Leben – und das aus nachvollziehbarem Grund. Doch heißt das zugleich, dass der Gang ins Theater damit überfällig ist?
Ich werde vermutlich nie vergessen, wie ich zum ersten Mal vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar stand. In eleganter Abendrobe schritten die Besucher*innen vorbei an den Bronzestatuen von Goethe und Schiller durch den klassischen Säulenvorbau in den Theatersaal. Egal, woher man kam oder welchen Beruf man ausübte, an diesem Abend wurde jede*r zur VIP. Im Theatersaal ließ man sich auf sanften rubinroten Sesseln nieder. Alle warteten gespannt, bis der Vorhang sich öffnete und das Stück begann. Auch wenn ich mich nicht mehr so gut an die Details der Inszenierung erinnern kann, so ist mir doch die kollektive Atmosphäre im Kopf geblieben. Man sah und hörte gemeinsam, lachte und klatschte gemeinsam und tauschte sich im Anschluss an die Vorstellung offen und inspiriert mit den anderen Zuschauenden aus – bei gutem Wein und dem ein oder anderen Glas Champagner, versteht sich. Man konnte förmlich sehen, wie die Gesichter an diesem Abend leuchteten – wie sich die Faszination der dargestellten Geschichten auf die Menschen übertrug.
Was Theater ausmacht
Als die Theaterschauspielerin Corinna Kirchhoff in einem Interview mit der Nachrichtenseite TipBerlin gefragt wurde, was sie sich für das Theater in diesen Zeiten wünsche, entgegnete sie:
„Dass sich das Theater […] besinnt auf seinen fast utopischen „Live“-Charakter: Körperlich-geistig anwesend sein zeitgleich mit dem Zuschauer im selben Raum, jetzt! Zusammen! Dass es mit dieser superkonkreten wie utopischen Dimension, die nur dem Theater gehört, purer und selbstbewußter umgeht.“
Es ist eben genau dieser Live-Charakter, der das Theater so besonders macht. Wenn man im Publikum sitzt, sieht man nicht nur eine Handlung, sondern ist ein Teil davon. Jedes Lachen, jedes Beifallklatschen, jedes Wort, das man über die Vorstellung verliert, trägt zu einer authentischen Aura bei, die es wert ist, live und vor Ort erlebt zu werden. Natürlich ist es streitbar, dass Theater im Lockdown geschlossen werden mussten, wo doch das Ansteckungsrisiko vergleichsweise gering ist, aber das ist hier nicht der Punkt. Was wir uns stattdessen fragen sollten, ist, ob Kultur immer nur auf Knopfdruck ein- und ausgeschalten werden kann oder ob es mehr braucht, als ein Abo bei Netflix und Co?! Kann Kultur als gesellschaftliche Institution dienen? Oder brauchen wir Geschichten einfach nur als emotionale Kopfkissen, auf denen wir uns nach langen Tagen ausruhen können?
Fragen, die man im Hinterkopf haben sollte, wenn die Tiefkühlpizza das nächste Mal im Ofen gart und man währenddessen die Streaming-Watchlist abarbeitet.