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Glauben Sie an Gerechtigkeit, Frau Amiri? – Ein Abriss der Weltethosrede 2025

Vergangene Woche hielt ARD-Journalistin und Nahostexpertin Natalie Amiri die 16. Weltethosrede zum Thema Gefährdete Werte: Menschenrechte in einer destabilisierten Welt. Ein Diskurs über Menschlichkeit, Verantwortung in einer Demokratie und das Teilen einer Orange.

Anfang Mai war Natalie Amiri noch in Rojava unterwegs, dem autonomen kurdischen Selbstverwaltungsgebiet in Nord-Ostsyrien. Auf ihrem Instagram-Kanal gibt es mehrere Beiträge dazu. Ein Video vom 04. Mai zeigt, wie sie in einem gepanzerten Geländewagen durch das IS-Gefangenenlager al-Haul gefahren wird, während der Fahrt springt ein kleiner Junge aufs Trittbrett. Er spuckt dorthin, wo er hinter der Fensterscheibe ihr Gesicht sieht. Am Montagabend stand dieselbe Frau am Rednerpult des Festsaals in der Neuen Aula, wirkte gelassen und professionell und sagte, sie habe Respekt vor der Rede gehabt, die sie halten soll. Die Weltethosrede wird seit 25 Jahren von der Universität Tübingen und der Stiftung Weltethos organisiert. Es sprachen bereits Altbundeskanzler Helmut Schmidt, Friedensnobelpreisträger*innen Desmond Tutu und Shirin Ebadi und der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan.  

„Wir müssen mutiger sein“

„Wir als Gesellschaft haben eine sehr große Aufgabe, wir müssen unsere hart erkämpften Werte schützen“, sagte Amiri. Es ging um Wasserknappheit und zwanzig Stromausfälle am Tag in Rojava, um türkische Drohnenangriffe ohne internationale Reaktion, um „Pendeldiplomatie“ und „Worthülsen“. Darum, dass die Menschen in Rojava trotzdem mehr lächelten als in Deutschland, denn sie seien füreinander da. „Was, wenn wir es selbst in die Hand nehmen?“, fragte Amiri dann. „Was, wenn das Ziel einer Auseinandersetzung nicht Sieg ist, sondern Fortschritt?“

Sie erzählte von ihrem iranischen Vater, der neulich auf einer Zugfahrt fremden Mitreisenden ein Stück Orange anbot. Über diesen Ausdruck gesellschaftlicher Kollegialität hätten viele sich gefreut: die Mitreisenden, Amiris Instagram-Follower – auch von ihrem Vater und der Orange gibt es ein Video – und nicht zuletzt Amiris Vater selbst. Und zwar darüber, anderen eine Freude zu machen.

Nach der Rede stellte Natalie Amiri (l.) sich Fragen aus dem Publikum. Die Moderation übernahm die Geschäftsführerin der Stiftung Weltethos Lena Zoller. Bild: Jörg Jäger/Universität Tübingen

Demokratie lebe nicht nur in Institutionen, sondern auch im Miteinander, in der Bereitschaft zum Perspektivwechsel. Haltung zeigen, andere Meinungen aushalten können, heiße das. Mutiger sein. Verantwortung übernehmen, um für Freiheit und Demokratie einzustehen – denn beides existiere nicht von selbst. „Menschen im Iran sind bereit, dafür zu sterben, um so zu leben, wie wir“, sagte Amiri, die einen Abschluss in Orientalistik hat und neun Jahre für die ARD aus dem Iran berichtete. Es gebe die „Pflicht zur Zuversicht“, vieles in Deutschland laufe auch gut. Die Botschaft ist nachdrücklich wie hoffnungsvoll. 

Standing ovations

Die Kernaussage der Rede war nicht neu, aber präzise auf den Punkt gebrachte gesellschaftliche Betrachtung. Amiri traf einen Nerv damit. Gleichzeitig schaffte sie es, Kritik weniger als Kritik zu formulieren, sondern als Handlungsmöglichkeit. Als mutige Journalistin Mut zu fordern und dabei selbst Mut zu machen. Und weil sie nahbar schien und persönlich ergriffen, stand das Publikum zum Applaus auf. In der anschließenden Fragerunde äußerten Zuschauer ihre Dankbarkeit.

„Was, wenn das Ziel einer Auseinandersetzung nicht Sieg ist, sondern Fortschritt?“

Natalie Amiri

Am Folgetag organisierte die Stiftung Weltethos ein Werkstattgespräch. Ein Jurastudent fragte: „Natalie, glaubst du noch an Gerechtigkeit?“ Amiri antwortete darauf: „Ich glaube, dass jeder einen eigenen Weltethos hat. Ich glaube an das Gute im Menschen und daran, dass uns dieses Gute letztlich vereint.“

Die ganze Weltethosrede könnt ihr hier nachlesen oder online anschauen.

Beitragsbild: Jörg Jäger/Universität Tübingen

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