Kurz vor dem Wahlsonntag war die stellvertretende SPD-Parteivorsitzende und Ministerpräsidentin des Saarlandes Anke Rehlinger zu Besuch in Tübingen, um den parteieignenen Direktkandidaten, Florian Zarnetta, beim Wahlkampf zu unterstützen. In der Westspitze sprachen sie ausführlich über die Haltungen und Visionen ihrer Partei zur aktuellen Politik und der kommenden Wahlperiode.
„Wer soll dieses Land führen?“ Diese Frage, so Florian Zarnetta zu Beginn der Veranstaltung, stelle sich bei der anstehenden Bundestagswahl. Die SPD habe mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten ein „tolles Angebot“, meint Zarnetta und wirkt dabei selbst nur mäßig überzeugt. Er berichtet von den vielen bereichernden Gesprächen, die er während des Haustürwahlkampfes bereits geführt habe. Aus diesen wisse er, dass die Menschen „mehr als nur Migration“ beschäftige, sondern eine Vielfalt an Themen, welche die SPD daher ebenfalls in Angriff nehmen wolle. Damit übergibt der 26-Jährige das Mikrofon an Anke Rehlinger.
Auch die Ministerpräsidentin betont gleich zu Beginn, dass es am 23. Februar um eine Richtungsentscheidung gehe, besonders in puncto Europa, Energie und Klima. Neben Sachfragen werde allerdings auch über die ganz grundsätzliche Frage entschieden werden, in welchem gesellschaftlichem Klima man in Zukunft leben wolle und werde. Daran anknüpfend kritisiert sie ausgiebig die CDU/CSU für die Zusammenarbeit mit der AfD beim Abstimmen über den migrationspolitischen Antrag der Unions-Bundestagsfraktion. Dabei stellt sie besonders den Aspekt heraus, dass Friedrich Merz seinen Fünf-Punkte-Plan, der laut Rehlinger in der Realität nichts verändere, als indiskutabel dargestellt habe. Dies sei ein Tabubruch, der zur Spaltung der Gesellschaft beitrage. In der Politik sei es wichtig, Kompromisse zu suchen, auch wenn dies in der Gesellschaft häufig als Handlungsunfähigkeit wahrgenommen werde. Auf die Abschiebepläne oder sonstige Inhalte des Union-Antrags geht Rehlinger allerdings nicht ein.

Chancen durch Zusammenarbeit
Viele Menschen suchten aus Angst und Sorge nach Antworten in Form von „nicht-adäquaten Angeboten“ wie Antisemitismus und Rassismus, so Rehlinger; diesen gelte es ein anderes, adäquates Angebot zu machen, das ihnen ebenfalls Sicherheit gibt. Gleichzeitig müsse man als Gesellschaft besonders für einen guten Klimaschutz eingies verändern und dabei auch mit Rückschlägen rechnen.
Durch eine nachhaltige Gestaltung der Wirtschaft könne man zudem Arbeitsplätze und Klima schützen, dafür müssten auch mehr öffentliche Gelder als bislang in die Hand genommen werden. Für die praktische Umsetzung dieses Ziels verweist die Ministerpräsidentin auf die von der SPD angestrebte Investitionsprämie für Unternehmen. Diese sei wirtschaftlicher und effizienter als die laut ihr „nicht gegenfinanzierten Steuergeschenke“, welche die CDU auf den Weg bringen wolle.
Darüber hinaus betont Rehlinger die Relevanz der Energiewende, die zügig vorangetrieben werden müsse. „Weder Wind noch Sonne stellen eine Rechnung“, so die Politikerin. Dass Deutschland beim Ausbau von Wind- und Solarenergie so hinterherhinke, schiebt sie hauptsächlich auf den früheren CDU-Energieminister Peter Altmaier. Die von seinem SPD-Nachfolger Sigmar Gabriel eingeführte EEG-Reform lässt sie hingegen unerwähnt.

Als große themenübergreifende Idee spricht Rehlinger an, dass es in vielen politischen Bereichen sowohl Risiken als auch ungenutzte Chancen gebe – so auch beim Thema Datenschutz. Dass man in Deutschland diesbezüglich immer etwas übervorsichtig sei, will sie nutzen und Cybersicherheit zum „Kassenschlager“ machen. Politische Lösungen würden am Ende des Tages jedoch immer von europäischer Zusammenarbeit geprägt sein. Ohnehin liege die Kraft der Politik in Europa und nicht in der „Nationalstaaterei“, betont die Ministerpräsidentin: „Dass wir im Einhausen Glück und Seeligkeit finden, wird nicht funktionieren.“ Stattdessen brauche es Mut und Zuversicht, diese beiden Wörter stellt sie in ihrem Vortrag immer wieder in den Mittelpunkt.
Weniger Migration…
Chancen sieht die SPD-Politikerin besonders in dem vor zwei Jahren im EU-Parlament beschlossenen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS), welches nächstes Jahr in Kraft tritt. Durch diese Reform werden Menschen, die nach Europa fliehen, künftig an den europäischen Außengrenzen abgefangen und dort festgehalten, bis über ihren Asylantrag entschieden wurde. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnet GEAS als die „größte Asylrechtsverschärfung seit 30 Jahren“ und kritisiert die Reform als menschenrechtswidrig, da sie die Unterbringung von Menschen in Auffanglagern unter haftähnlichen Bedingungen befürchtet.
Anke Rehlinger betont hingegen, dass GEAS, welches auch die Verantwortungsübernahme der EU-Staaten für Asylsuchende regelt, die europäische Solidarität festige und das Schengen-Abkommen stärke. Auf die Kritik von Pro Asyl angesprochen, antwortet Rehlinger: „Ich glaube, dass GEAS der richtige europäische Ansatz ist, um mit Migration umzugehen, und da müssen wir eben dafür sorgen, dass es nichts Kritikwürdiges geben wird.“ Die Menschen erwarteten mehr Ordnung als es sie momentan gebe und der Verteilmechanismus der Reform ermögliche das. Dass der GEAS-Kompromiss unter Olaf Scholz und Nancy Faeser zustandegekommen sei, mache sie stolz.

Auf eine Frage aus dem Publikum zum richtigen Umgang mit der AfD und zur Verantwortung der SPD für deren Erstarken erwidert Rehlinger, dass die demokratischen Parteien die Souveränität darüber haben müssten, über welche Themen sie reden. Dass sich das auch mal mit denen der AfD überschneide, dürfe keine Rolle spielen: „Unsere Themen müssen die sein, die die Menschen am Abendbrottisch bereden und die müssen wir angehen. Wenn es Probleme bei Migration gibt, und die gibt es, dann müssen wir das humanitär angehen.“
…und weniger Bürokratie
Dennoch distanziert sich die stellvertretende SPD-Vorsitzende ausdrücklich von der AfD: „Ich kann und will nicht akzeptieren, dass die AfD zur Normalität wird.“ Die Partei habe viel Missgunst ausgelöst, weil sie mit der Verfassung breche. Dass sie in den letzten Jahren dennoch so viel Zulauf erfahren hat, erklärt Rehlinger mit einer Sehnsucht in der Bevölkerung nach „dem Einen, der alles wieder gutmacht, wie es früher angeblich einmal war.“ Dieser Sehnsucht könne man entgegenwirken, indem man Verwaltungsabläufe verinfache, um so den von den Menschen zurecht als komplex wahrgenommenen Staat zu vereinfachen.
Auf die Anmerkung, dass die Aussage im SPD-Wahlprogramm „Wer sich nicht an die Regeln hält, muss wieder gehen“ doch der Forderung „kriminelle Ausländer abschieben!“ gleichkomme, reagiert Rehlinger mit zustimmendem Nicken und spricht von einem „Bedürfnis in der Gesellschaft, Humanität und Ordnung gemeinsam umzusetzen.“ Daher gelte es bei schweren Straftaten festzustellen, dass die Hilfe der Deutschen offensichtlich missbraucht wurde und der Schutzstatus der betreffenden Person dann auch verwirkt sei. Dabei gehe es natürlich nicht darum, wer mal einen Kaugummi geklaut hat – aus dem Wahlprogramm geht das jedoch genauso wenig hervor wie die nähere Bestimmung, wer mit dieser Forderung konkret gemeint ist.
Beitragsbild: SPD