In den „Oberen Sälen” wurde am Montagabend über die Mitte des Lebens philosophiert. In der Mitte ihres Lebens kehrt die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch an ihren ehemaligen Studienort Tübingen zurück, um ihr neues Buch vorzustellen und dem Publikum philosophische Antworten auf die großen Fragen des Lebens anzubieten.
Der Saal im historischen Museumsgebäude füllt sich, das Knarren des Parkettbodens ist unter dem fröhlichen Getuschel kaum mehr zu hören. Um kurz vor 20 Uhr am Montagabend versammelte sich das Publikum: mehrheitlich mittleren bis höheren Alters, mehrheitlich weiblich gelesene Menschen, in entspannter Vorfreude auf die bevorstehende Lesung.
Viel Getuschel und wenig freie Plätze
In kurzen Sätzen, die unter Sitznachbar*innen ausgetauscht werden, unterhält man sich über die Theatervorstellung letzte Woche oder fragt nach dem letzten Marktbesuch und danach, warum man sich dort eigentlich dann doch verpasst habe. Nur wenige Plätze in der letzten Reihe bleiben frei und natürlich die ganz vorne – um sich direkt unter dem Podest zu platzieren, ist man doch zu schüchtern. Die Gesichter sind neugierig und die Kleidung bunt, die Pastellfarben erinnern an das Cover des Buches, das im Zentrum des Abends steht.
Dann betritt die Autorin Barbara Bleisch die Bühne, in Begleitung der Moderatorin Ingrid Abeln von der Buchhandlung Osiander in Tübingen. Nach einem großen Schluck Wasser sind die ersten Worte der Philosophin „Hören Sie mich gut?”, damit ist das Eis gebrochen. Über die folgenden gut eineinhalb Stunden entsteht ein anregendes Gespräch, an dem das Publikum sich aktiv beteiligt. Noch vor der Fragerunde zum Schluss, die dann auch rege genutzt wird, reagieren die Leute engagiert. Sie nicken fleißig, lachen und murmeln zustimmend. Bleisch entwickelt sich zum Publikumsliebling, wenn sie das nicht schon vor der Vorstellung war. Als Moderatorin der Schweizer Fernsehsendung Sternstunde Philosophie ist sie bereits ein bekanntes Gesicht der populären Philosophie. Dort trifft sie auf andere Philosoph*innen, Autor*innen und Expert*innen und erörtert im Gespräch gegenwärtige gesellschaftspolitische Fragen. Ihre dort etablierte Schlagfertigkeit stellt sie auch an diesem Abend vor dem wohlwollenden Publikum auf Beweis. Das alles ist jedoch kein Wettkampf, ebenso wenig wie das Meistern der mittleren Jahre oder der Midlife-Crisis, wie dieser Lebensabschnitt häufig genannt wird. Denn, wie Hannah Arendt bereits feststellte, kämpfen doch alle mit den gleichen Fragen. Diese geteilte Ratlosigkeit möchte sie „zur gemeinsamen Sache machen”, sagt Bleisch.
Das Leben dreht Runden
Bleisch studierte Germanistik und Religionswissenschaften in Zürich, Basel und Tübingen und promovierte an der Universität Zürich in Philosophie zum Thema globale Gerechtigkeit. Weiter beschäftigte sie sich mit Themen der Familienethik. Aus ihrer Forschung dazu sind zwei Bücher entstanden: Warum wir unseren Eltern nichts schulden (2019) und Kinder wollen (2020). Nach einigen anderen Publikationen ist Mitte des Lebens (2024) nun ihr erstes Buch, das in eigenem Interesse, unabhängig von ihren Forschungsprojekten steht. Es geht darin auch um ihre eigene Erfahrung der mittleren Jahre, die sie frei und auffallend wohlklingend beschreibt.
Mit der bekannten ruhigen, klaren Stimme und charmantem Zürcher Akzent liest Barbara Bleisch aus dem Anfangskapitel. Am Lai Nair, dem schwarzen See im Unterengadin, dreht sie ihre Runde, die sie schon als Kind, später mit ihren eigenen Kindern an der Hand und schließlich häufiger in Begleitung von Freund*innen gegangen ist. Das fröhliche Herumspringen in der Kindheit wurde abgelöst vom Geschichtenerzählen zur Aufmunterung der eigenen Kinder und dies wiederum ersetzt durch Weggespräche mit Freund*innen oder dem Lauschen des eigenen inneren Dialogs. Mit Blick auf den See und den dahinter emporragenden Bergspitzen weichen die Fragen, was mit dem Rest des Lebens anzufangen ist und ob und welche großen Sprünge es noch braucht, einer tröstlichen Stille. Die eigene Vergänglichkeit rückt angesichts der prächtigen zeitlos erscheinenden Landschaft in den Hintergrund. In anderen Momenten aber wird sie einem umso deutlicher vor Augen geführt.
Fiktive Alter, Kosmetik für „reife Haut” und eine Frozen Shoulder
Während des Buchschreibens und ihrer Auseinandersetzung mit den mittleren Jahren merkte Bleisch bald, dass die Thematik von einer gewissen Peinlichkeit umhüllt ist. Ob sie ein Selbsthilfebuch gegen die Midlife-Crisis oder eine „Anleitung für die Wechseljahre” schreibe? Sie selbst sieht keinen Anlass zur Scham. „Irritierend” sei eher, dass ab dem dreißigsten Geburtstag nun mehr auf ein fiktives Alter angestoßen würde. Doch in der Drogerie eine Pflegeprobe für „reife Haut” in die Hand gedrückt zu bekommen, sei „zugegebenermaßen nicht der erbaulichste Moment des Tages”, gesteht Bleisch in ihrem Buch. An dieser Stelle reagiert das Publikum mit schallendem Gelächter, was die Scham schon bestens beweist – Lachen offenbart Triggerpunkte, behauptet Freud. Bleisch ermutigt aber auch dazu, das Ganze heiter und mit Humor zu nehmen und selbst wenn aus der leichten Schulter eine „Frozen Shoulder” wird, flexibel zu bleiben. Wer nicht weiß, was eine „Frozen Shoulder” ist, soll beruhigt sein, «es kommt!», sagt sie mit Augenzwinkern.
„Lebendig sein ist wichtig. Alles andere ist Zeitverschwendung”
Welche positiven Dinge des Älterwerdens kann man aber nun den schönen Jahren der Jugend entgegenhalten? Der Rausch der ersten Male, die Aufregung, das Entdecken und Erproben ist doch kaum zu überbieten – oder? Nicht alles glänzt im Zauber des Anfangs, einige Dinge müssen sich entwickeln und werden mit der Zeit immer besser, so Bleisch. Beispielsweise werden Freundschaften tiefer und gewinnen damit oft an Qualität, je länger sie halten. Es sei auch von Vorteil zu wissen, in welcher Arbeitsumgebung man sich wohlfühlt oder, ob man für Gruppenreisen geeignet ist oder eher nicht. All diese Dinge tragen zur Lebensqualität bei. Die mittleren Jahre können ergiebig sein, „weil wir lebenserprobter sind und noch ganz aus den Vollen schöpfen können”.
Wenn man ins Grübeln gerät und sich fragt, ob man die Weichen noch einmal neu stellen sollte, schlägt Bleisch als Kriterium für die Entscheidung die Frage nach der Lebendigkeit vor. „Lebendig sein ist wichtig. Alles andere ist Zeitverschwendung”, zitiert sie die schottische Autorin A. L. Kennedy. Was lebendig ist, wächst, es stoffwechselt und verwandelt sich. Diese Möglichkeiten der Entwicklung sollte man sich in allen Lebenssituationen bewahren. Außerdem sind es die Momente des Staunens, die sogenannten „awe”-Momente, jene, die das Leben lebenswert machen. Aktiv herbeiführen kann man diese jedoch nicht, aber man kann für eine Offenheit ihnen gegenüber sorgen und ihnen Raum schaffen – oder man kann jeglichen Räumen entfliehen und dem Lai Nair entgegen pilgern, um in der Mitte von Berggipfeln und Tiefenwassern zu ruhen.
Beitragsbild: Sarah-Sophie Engel