Es ist eine Geschichte, die in Schullehrplänen verewigt wurde und ein Schriftsteller, der posthum zu TikTok Ruhm gelangte. Jeder kennt die Erzählung von Gregor Samsa, der eines Morgens als grotesker Käfer erwacht. Jedoch ist dem Tübinger „Tanztheater Treibhaus“ im Tanzlokal Boccanegra vergangenen Juni etwas Neues gelungen: Das Narrativ verzichtet auf Worte und lässt das Stück mit seiner beladenen Körperlichkeit für sich sprechen.
Eine kulturelle Renaissance
Franz Kafka ist ein Phänomen. Sein Todestag jährte sich diesen Juni zum 100. Mal und trotzdem bleiben seine Werke nach einem ganzen Jahrhundert so präsent wie nie zuvor. In den sozialen Medien ist ein „Kafka-Kult“ zu beobachten; Millionen junge Menschen schwärmen von seinen Büchern – schließlich sind auch sie von schwierigen Vätern und absurden Lebensrealitäten betroffen. Nicht selten wird gesagt, dass etwas „kafkaesk“ sei, wenn eine Situation auf rätselhafte Weise unheimlich oder bedrohlich erscheint. Vielleicht liegt hierin der universelle und unbiegsame Kern von Kafkas Erzählungen: Das Leben ist für uns nach wie vor, unbegreiflich.
Als Hommage veranstaltet das Tanztheater Treibhaus gemeinsam mit KuneArts in Tübingen das Festival „Kafka lächelt“, welches von Mai bis Dezember besucht werden kann:
Wir feiern den Meister der Zwischentöne und Zwischenräume. Wir feiern die Vieldeutigkeit seiner Texte und seine Weigerung sie zu deuten.
Elke Pfeiffer, Leiterin des Tanztheater Treibhauses und künstlerische Leitung des Festivals
Körperlichkeit strahlt im sprachlosen Raum
Auch die tanztheatralische Interpretation der „Verwandlung“ unter Regie von Elke Pfeiffer weigert jegliche Deutung, von Anfang an. Wir sehen zu wie sich eine formloser Haufen unruhig unter einer Decke im Bett wühlt, darunter quillt geschreddertes Papier hervor und die Bühne ist sonst dürftig leer. Springt jetzt ein Mann in einem Kakerlaken Kostüm raus? Es kommt anders: Die Zuschauer*innen sehen nur einen gewöhnlichen Mann (Christoph Schagerl) in einem weißen Unterhemd – er wird für die nächste Stunde die Metamorphose von Gregor Samsa verkörpern. Schagerl spricht nie während dem Stück, jedoch schafft er es allein durch seine elektrisierende Körperlichkeit, das Erschrecken und die verspielte Selbsterkundung des Ungeziefers gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen. Das Stück lebt allgemein von einer Dualität und springt immer zwischen tragischen und zugleich komischen Elementen – manchmal weiß man nicht, ob man lachen oder weinen sollte. Wir leiden mit dem Käfer mit und spüren greifbar seinen Schmerz, wenn seine Schwester Greta (Yvonne Mann) ihn in seiner neuen Form ablehnt. Jedoch sind wir umso so erfreulicher berührt, wenn er über die Bühne mit einem Rollstuhl düst; er beherrscht seinen neuen Körper! Die zentrale Verwandlung im Stück nimmt nicht lediglich eine körperliche Form an, sondern gleichermaßen eine psychische, auch für die Zuschauer.
Überschneidung zwischen Theater und Gesellschaft
Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
Franz Kafka in einem Brief vom 27. Januar 1904 an Oskar Pollak
Kafkas Werke fungieren als prägnante Kritik über unsere kapitalistische Gesellschaft. Es ist wohl kein Zufall, dass Gregors Familie nach seiner Mutation zu einem lebensgroßen Insekt in erster Linie darüber besorgt ist, dass er nicht mehr in der Lage ist, seine Rolle als Brotverdiener der Familie zu erfüllen. Im Laufe des Narratives verpönen sie ihn zunehmend während er hilflos seiner Sprachlosigkeit erliegt. Gegen Ende vom Stück erscheint eine projizierte Textpassage mit den Worten: „Weg muss es!“ Kurz danach trampelt Greta über die Bühne mit einem unverhältnismäßig großen Besen und fegt Gregor in eine Ecke. Hat er seinen Nutzen und seine Liebenswürdigkeit nun endgültig verloren? Sind wir alle nicht mehr wert, als was wir arbeiten? Solche Fragen stellt das Theaterstück nie direkt, jedoch erinnert es uns immer wieder: Das hier ist das echte Leben. Dieser Versuch, die vierte Wand zu durchbrechen, ist besonders spürbar in einem atemberaubenden Moment, wo Greta das Fenster öffnet und auf der Bühne raucht. Der dichte Qualm ihrer Zigarette löst sich in Luft auf und das Zwitschern der Vögel vom Tübinger Provenceweg dringt in unser dunkles Auditorium.
Letztendlich wacht Gregor auf, es war nur ein Alptraum. Hier bleibt die Regisseurin Elke Pfeiffer dem originalen Ende, wo Gregor als Käfer stirbt, nicht treu. Aber Kafkas Werke nehmen ja bekannterweise ihr eigenes Leben an, auch hundert Jahre später – sei es auf TikTok oder auf der Bühne im Tanzlokal Boccanegra.
Wer die Aufführung vom Tanztheater Treibhaus verpasst hat bekommt eine zweite Chance: Jeweils am 1. und am 2. November wird das Stück nochmal um 20 Uhr im Boccanegra aufgeführt. Weitere Veranstaltungen zu Kafka diesen Sommer als Teil vom Festival “Kafka lächelt” findet ihr hier.
Beitragsbild: Evelyn Ellwart und Holunderwerk