Ein Besuch in Schottlands Hauptstadt kann Vieles zugleich sein. Für uns war er bisher stets mit der stark unterschätzten Farbe Grau verbunden. Mit grau-braunen Steinen sind die Gassen und Straßen gepflastert, graue Gemäuer, kontrastiert vom Prunk einiger weniger Gebäude, bezeugen den Status Edinburghs als Arbeiterstadt, und farbloser Regen, der vom grauen Himmel fällt, hüllt alles in dunkel-glänzende Magie. Begleitet uns auf einen Spaziergang durch die verschiedenen Grautöne und geheimnisvollen Straßen der Stadt.
Hostel-Hassliebe mit Paula
Wer im Verlaufe seiner Studienzeit nicht mindestens ein Hostel von innen gesehen hat, hat nicht gelebt. Ein solches Sprichwort steht bestimmt…irgendwo. Ach ja Hostels, man muss sie lieben – und hassen – und beides am besten ständig gleichzeitig. Lieben? Ja, denn immerhin ist die mit Kopfstein gepflasterte Straße, die von unserer Stockbettunterkunft auf die High Street der schottischen Hauptstadt führt, in weniger als einer Minute zu bewältigen und der Blick aus den hohen Fenstern auf die Altstadt von Edinburgh ist sicher nicht im Preis mitberechnet worden, das hätten wir uns sonst nämlich bestimmt nicht geleistet.
Reden wir nicht drum herum, die Lage von Hostels sucht oft ihresgleichen. Sie bieten einen billigen, zentralen Ausgangspunkt, um eine Stadt zu erkunden, wenn man ihre zahlreichen (Farb)facetten in Kauf nimmt (die schonmal Anflüge von Hass…oder zumindest Augenverdrehen hervorrufen können). In unserem Fall sind das zum Beispiel die gelben Sticker in der Küche, die darauf hinweisen, dass der Raum videoüberwacht ist und das jede*r, der*die es auch nur wagt, die Hand an die staff only Kühlschränke zu legen, mit sofortiger Wirkung des Hauses verwiesen wird – Essensdiebstahl scheint in der Vergangenheit ein reales Problem gewesen zu sein.
Es ist auch das Dunkelblau der Stockbetten und das Grün der Decken im Tartan-Muster, mit denen die Schlafstätte ausgestattet ist und bei denen man niemals darüber nachdenken sollte, wie viele Kleinstvertreter des Tierreichs hier noch einen Platz gefunden haben. Es ist nicht zuletzt auch das nicht so sanft leuchtende Orange der Schlafsaallampe, die unsere Gespräche mit einem indischen Youtuber, einem Reisenden aus Neuseeland und zwei Münchner*innen beleuchtet – oh und unsere Diskussion mit einer Engländerin, die auch weit nach Mitternacht die Deckenleuchte unbedingt als Leselicht verwenden will.
Hostels eben…egal wie wunderschön das Kopfsteinpflaster von Edinburgh ist, sie werden nie die ideale Übernachtungsmöglichkeit sein. Aber was sollen wir sagen, für uns hat es gereicht und sind wir mal ehrlich, je unluxuriöser die Unterkunft, desto höher die Motivation nach draußen zu gehen und die Stadt mit all ihren Facetten (ja auch bei Regen) kennenzulernen.
Straßen-Poesie mit Sophie
An einem der besonders windigen Tage begegnen wir dem jungen S.B. Macfarlane auf einer der belebtesten Straßen Edinburghs. Der Dichter sitzt entspannt zurückgelehnt auf einer Kiste, direkt vor den altehrwürdigen Gemäuern einer Kirche, eine kleine cremefarbene Schreibmaschine vor sich auf einem Tisch. „Poet for Hire“ lesen wir auf einem Schild, das laminiert die Dienste des jungen Poeten anpreist. Als Literaturstudentinnen, die weder einem guten Gedicht noch einem britischen Akzent widerstehen können, machen wir natürlich auf dem Absatz kehrt und plaudern eine Weile mit S.B.
Seit über einem Jahr verdient sich der Linguistikstudent ein wenig Taschengeld dazu, indem er für fremde Menschen (vornehmlich Tourist*innen), die auf den Straßen Edinburghs unterwegs sind, Gedichte schreibt. Dafür braucht er nur ein Wort und den jeweiligen Namen der interessierten Person. Er hat keinen vorgeschriebenen Preis, sondern freut sich über alles, was seine Kund*innen ihm geben können – „a hug is fine as well.“ Wir fragen ihn, wie oft die Menschen ihn um ein Gedicht zum Thema „Liebe“ bitten. Er verdreht die Augen gen grauen Himmel und lacht: fast jedes Mal. Wir sind selbstverständlich kreativer (und hungrig) und fragen ihn nach einem Werk zum Schlagwort „Karottenkuchen“. Das brillante Ergebnis findet ihr unten fotografiert: An Ode to Carrot Cake.
Nachdem wir, wenig überraschend, vom Regen überrascht werden, stecken wir das kleine Blatt Papier ein und verabschieden uns von S.B. Macfarlane. Einige Straßenecken weiter bemerken wir, dass wir ihm keinerlei Bezahlung für seinen lyrischen Dienst angeboten haben, und laufen schnell zurück. Wir sehen S.B., der von einem großen bärenhaft starken Mann in schwarzer Lederjacke umarmt wird. Als wir uns nähern, können wir nicht umhin, den Alkoholdunst wahrzunehmen, der den Fremden umschwebt. Wir sehen nur ganz kurz sein Gesicht, als er sich umwendet und ins Grau der Stadt davoneilt. Es sieht aus, als hätte er geweint.
S.B. lacht nur über unsere Entschuldigung und freut sich dann sehr über die zehn Pfund, die wir ihm per PayPal schicken. Als wir (unserem journalistischen Interesse und angeborener Neugier folgend) fragen, wieso der große Mann geweint habe, erzählt der Straßenpoet, dass dieser ihn um ein Gedicht für seine Frau gebeten hatte. „He cheated on her and now he’s terribly sorry.“, erklärt S.B.
Wie die tragische Geschichte wohl ausgegangen ist, wissen wir nicht. S.B. Macfarlane wird sein Studium in Edinburgh zu Ende führen und so lange auf den nass-grauen Straßen der Stadt seine Poesie anbieten. Zukünftigen Besucher*innen der schottischen Hauptstadt empfehlen wir auf jeden Fall eine Plauderei mit dem jungen Dichter und einen lyrischen Impulskauf auf der High Street.
(Farb)tupfer schottischer Geschichte mit Paula
Obwohl sich vieles in Edinburgh wirklich leicht in dieselbe graue Farbpalette einordnen lässt, sind unsere Spaziergänge durch die Stadt jedes Mal erstaunlich bunt. Grund dafür sind vor allem die kleinen Fenster in die schottische Geschichte, die sich an jedem Souvenirshop für uns öffnen.
Hier scheinen uns nämlich immer wieder Wände voller bunter Tartan-Muster entgegen. Das berühmte Schottenkaro gibt es hier in allen Farben und Formen – und meistens in Verbindung mit Clannamen. So könnten wir zum Beispiel Schals, Mützen und Kilts (Schottenröcke) im Rot-Grün-Karo der MacKinnons kaufen, oder aber eine Blau-Grün Kombination der Campbells, oder wie wäre es mit dem Gelb-Schwarz-Rot (ja wirklich) der MacLeods? Es gibt wahrscheinlich kein Land auf dieser Welt, das so berühmt für ein Karomuster ist wie Schottland. Spuren des Webmusters auf der Insel lassen sich bis ins 3. Jahrhundert nach Christus zurückverfolgen. Die Farben für die Stoffe wurden dabei übrigens für Jahrhunderte aus den Pflanzen gewonnen, die in der jeweiligen Region gerade zur Verfügung standen und drückten so wahrscheinlich lange Zeit weniger eine Clan- als eher eine rein geographische Zugehörigkeit aus.
Spätestens seit der letzten Phase der Jakobitenaufstände gegen England im 18. Jahrhundert, die von Bonnie Prince Charlie angeführt wurde, sind die Karomuster fest mit schottischer Identität verbunden. Seine Unterstützer trugen (auch auf dem Schlachtfeld) Tartan, um ihre Loyalität zur Sache zur Schau zu stellen. Nach deren Niederschlagung nach dem Battle of Culloden 1746 wurde das Tragen von Tartan und Kilts sogar verboten.
Aber die Saat, aus der sich später das romantisierte Bild des karotragenden Highlanders entwickelte, war längst gesät. Dass heute jeder schottische Clan sein eigenes Tartanmuster hat, ist übrigens unter anderem dem schottischen Schriftsteller Sir Walter Scott zu verdanken. Dieser inszenierte 1822 den Besuch von Edinburgh durch den damaligen britischen König George IV und schlug vor, dass Clanangehörige den Monarchen in ihren jeweiligen Tartan gekleidet begrüßen sollten, eine Idee, die zur Wiederbelebung alter und Schöpfung neuer Webmuster führte (so viel zur ‚Natürlichkeit‘ von Traditionen…).
Ah ja, apropos Kilt und Tartan, zum Bild des schottischen Highlanders gehört natürlich noch ein wichtiges Accessoire: Die Scottish Bagpipe – der Dudelsack. Dessen Klang führt uns nicht nur durch Edinburgh, sondern genauso wie das berühmte Webmuster, durch die schottische Geschichte. Obwohl es Dudelsäcke in verschiedensten Formen in vielen Teilen der Welt gibt, sind wohl keine so berühmt wie die schottischen. Highland Pipes begleiteten die Menschen in den Hochlanden Schottlands seit dem 16. Jahrhundert im täglichen Leben genauso wie auf dem Schlachtfeld.
Auch sie spielten eine wichtige Rolle beim Aufstand der Jakobiten und wurden ebenso wie Tartan nach dem Battle of Culloden verboten. Anscheinend war die Bagpipe wesentlich unangenehmer für die englischen Truppen als herkömmliche Trompeten. Verständlich finden wir, aber: Obwohl Dudelsäcke laut und nicht immer wohlklingend sind, eine gewisse Epik ist ihnen einfach nicht abzusprechen. Wir sind uns einig: sie bergen eine ebenso raue Schönheit wie schwerer, kratziger Wollstoff mit Tartan-Muster, wie ginsterbewachsene Hügel und wie ein Glas voll Scotch und sind damit eben einfach ganz und gar schottisch.
High Tea mit Sophie
Dass Großbritannien ein Traum für alle Veganer*innen ist, ist den meisten Kupferblau-Lesenden sicher bekannt. Nach kulinarisch exzellenten Besuchen in diversen Restaurants und Cafés finden wir uns im georgianisch inspirierten Hotel The Dome wieder. Das Gebäude stammt noch aus dem Jahr 1775. Das ehemalige College wurde 1844 von Grund auf umgebaut und zuerst zu einem Bankgebäude umfunktioniert und schließlich im Jahr 1996 von der Royal Bank of Scotland verkauft. Seither ist das altehrwürdige Gemäuer ein Hotel und bietet sowohl Übernachtungsmöglichkeiten als auch einen erstklassigen High Tea an. Besucher*innen können außerdem eine Whisky-Verkostung buchen oder die Räumlichkeiten für private Feiern anmieten.
Uns als Verehrerinnen von Jane Austen und hoffnungslosen Verklärerinnen der britischen Kultur, konnten auch die 32 Pfund pro Person nicht aufhalten, die der vegane High Tea im Dome kostet. Nach einigen Tagen auf Reisen und dem Leben aus kleinen, recht feuchten Rucksäcken, haben wir das Gefühl, dass unsere mitgebrachten Kleider nicht elegant genug sind für diesen Tagespunkt. Wir versuchen, uns das nicht anmerken zu lassen, als wir durch die hohen Flügeltüren in den georgianischen Tearoom eintreten. Es erscheint einem, als passiere man das Portal zu einer anderen Welt; einer Welt, zu der Sticken, Reiten, Tanzbälle und leinene Taschentücher ebenso gehören, wie der traditionelle Vier-Uhr-Tee und allsonntäglicher Kirchgang.
Ein freundlicher Angestellter führt uns zu einem kleinen Ecktisch, der bereits mit zwei weißen Leinentüchern gedeckt ist. Wir bestellen den veganen High Tea und betrachten die anderen Gäste, während wir warten. Wie so oft im Leben hätten wir uns keinerlei Sorgen um unser Erscheinungsbild zu machen brauchen – neun von zehn Menschen im Raum sind erschreckend offensichtlich Tourist*innen, tragen zum Teil Sneaker, Gummistiefel und dicke Pullover, und bitten die verschiedenen Angestellten im Minutentakt um Fotos.
Als unsere Bestellung in Form einer Etagère und zweier silberner Teekannen eintrifft, wissen wir: die 32 Pfund haben sich definitiv gelohnt. Vegane Sausage Rolls und Sandwiches, noch warme Scones und sogar Clotted Cream sowie eine Auswahl an Törtchen (bestehend aus einer Zitronen-Tarte, einem Erdbeer-Sponge und einer göttlichen Kreation aus Sahne, Himbeeren und Biskuit) sind Inhalt der nächsten zwei Stunden. Unsere Konversation passt sich wie durch Zauberei dem Ambiente an und wir plaudern, begleitet vom Klang der Silberlöffel in unseren Teetassen, über Literatur, Klassische Musik und die Liebe. (Um ehrlich zu sein, sind dies auch im Alltag unsere üblichen Gesprächsthemen, doch endlich einmal passen sie auch ins uns umgebende Bild.)
Nach gefühlten zwei Litern Tee pro Person (ja, wir haben Refills bekommen) und dem Verzehr der köstlichen Gebäcke gehen, vielmehr schlendern wir nach Hause und müssen uns erst einmal hinlegen. Dass wir den Abend in einem der vielen Pubs der Stadt ausklingen lassen, versteht sich von selbst.
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