Eine Zeitreise im Freistil anlässlich der 40. französischen Filmtage in Tübingen
L’escadron bleu, die blaue Staffel, war eine mobile Einheit des französischen roten Kreuzes bestehend aus 12 jungen Frauen. Am 28. März 1945 brechen diese auf, um im zerstörten Osten Europas französische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in die Heimat zu bringen. Der Dokumentarfilm von Emmanuelle Nobécourt und Philippe Maynial (2018) lässt den Zuschauer an ihrer Mission teilhaben. Anlässlich des 40. Jubiläums der Französischen Filmtage in Tübingen besucht die Kupferblau die Aufführung dieses Filmes im Freistil und wird Zeuge einer bisher unbekannten Geschichte von mutigen Frauen in blauer Uniform.
Manche Held*innengeschichten bleiben unbekannt
Die Kamera folgt einem verschneiten Waldweg, es muss tiefer Winter sein. Die Musik setzt ein und es ertönt eine melancholische und unheilvolle Melodie. Ein Schriftzug ist zu lesen: „Les filles de l’escadron bleu“ heißt es auf der Leinwand und führt den Zuschauer auf eine Zeitreise.
Ce film est un témoin de l’époque important.
Philippe Maynial
„Dieser Film ist ein wichtiger Zeitzeuge“, so erzählt Philippe Maynial in der, auf den Dokumentarfilm folgenden, Podiumsdiskussion. Er ist nicht nur maßgeblich an der Produktion und Regie des Films beteiligt gewesen, sondern auch der Neffe von Madeleine Pauliac, einer wichtigen Persönlichkeit und Teil der blauen Staffel.
Kurz vor dem Tod seiner Mutter, Madeleines großer Schwester, erhielt er eine Kiste voller Briefe, Bilder und Überraschungen. Noch weiß er nicht, dass ihn eine Heldengeschichte erwartet, denn von den mutigen Taten seiner Tante weiß er nur wenig. Jahrelange Recherche und Aufarbeitung ziehen ins Land und am Ende steht er vor einer unglaublichen Geschichte, die er nicht für sich behalten kann. Gemeinsam mit Emmanuelle Nobécourt sucht er die ehemaligen Mitglieder auf, sammelt deren originale Fotos, Videos und Tagebucheinträgen zusammen und lässt die Geschichte sich somit selbst erzählt. Die Aufnahmen zeigen teilweise nachkoloriert, teils schwarz-weiß eine Welt in Trümmern. Eine Welt in die 12 Frauen wieder etwas Menschlichkeit und Hoffnung bringen. „Bewegende Bilder aus Kriegszeiten, die man heute genauso in der Ukraine und in Gaza wiedersieht“, meint Maynial dazu.
Zeugen des Chaos
Der Film beginnt und flackernd enthüllt sich eine leidvolle Szenerie. Verwüstete Städte, abgemagerte Kinder und zwölf Frauen. Sie alle lachen in die Kamera, jedes Bild wirkt voller Lebensenergie und versteckt die unbeschreiblichen Anstrengungen und Strapazen ihrer Mission. Eine weibliche Stimme beginnt zu erzählen. Man hört die Worte von Simone Saint-Olive, die von ihren Kameradinnen auch liebevoll Sainto genannt wird. Sie und weitere elf französische Frauen, fünf Sanitäterinnen und fünf Krankenschwestern und die Ärztin Madeleine Pauliac machen sich unter der Leitung von Violet Guillot auf eine gefährliche Mission, um in einem zerstörten, im Chaos versinkenden Europa ihre Männer zu retten.
Während des Zweiten Weltkrieges musste Frankreich Zwangsarbeiter an Deutschland abgeben, die sowohl zur Feld- als auch zur Fabrikarbeit eingesetzt wurden. Das Bundesarchiv Deutschland schätzt die Zahl der zwangsarbeitenden Franzosen auf eine Millionen. Gegen Kriegsende waren viele von ihnen, nach langer Zeit der Entbehrung, zu schwach, krank oder wurden in Gefangenenlagern festgehalten.
Cette histoire montre un chapitre terrible
Philippe Maynial
Der Weg der blauen Staffel, führt sie zunächst an Dachau vorbei, wo sie am Tag der Befreiung durch die US-Armee eine unaussprechliche Szenerie vorfinden. Die Menschen, denen sie begegnen, haben Grausames erlebt und was sie nicht berichten, ist ihren geschundenen Körpern abzulesen. Die verzerrten Aufnahmen bilden ein Leid ab, vor dem man am liebsten die Augen verschließen möchte.
„Diese Geschichte zeigt ein schreckliches Kapitel“ sagt Maynial hinterher und aus dem Tagebuch einer der Frauen wird zitiert „Es geht darum all diese Männer aus dieser Hölle zu befreien“.
Heulende Motoren und ein Wettlauf gegen die Zeit
Mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, versucht die blaue Staffel den Männern zu helfen. Täglich fahren sie bis zu 14 Stunden mit ihren Wagen hin und her, bringen die Verwundeten in Krankenhäuser oder in die Heimat nach Frankreich. Weiter geht es nach Warschau, eine Stadt die buchstäblich in Schutt und Asche liegt. Hier errichten sie ein Krankenhaus, das schon bald neben den französischen auch den polnischen Verwundeten Hoffnung gibt.
Sie klappern sowjetische Gefangenenlager und Krankenhäuser ab, um jeden Mann zu retten den sie können. Teilweise müssen sie stundenlang verhandeln und die sowjetischen Offiziere unter den Tisch trinken. Es ist ein Wettlauf um die Zeit, denn Stalin droht, die polnischen Grenzen dicht zu machen. Die Frauen leisten Hilfe, wo sie können, um möglichst vielen Familienangehörige die verhassten Worte „disparu à l’est“ (im Osten verschwunden), zu ersparen.
Heile Heimkehr und fatale Verluste
Insgesamt dauert die Mission etwa 7 Monate, bevor die Frauen im November 1945 wieder in die Heimat zurückkehren. Eine Auszeichnung durch den französischen Staat erhält nur Madeleine Pauliac, die bei einem zweiten Einsatz im Folgejahr ums Leben kommt. Erst viel später erfährt man, dass sie zeitgleich in einem Kloster ein Zuhause für die Waisen Warschaus errichtet und bei geschundenen und vergewaltigten Frauen Geburtshilfe geleistet hat. 2016 verfilmte bereits die Regisseurin Anne Fontaine diese Heldengeschichte unter dem Titel „Les Innocentes“ (Die Unschuldigen). Als Madeleine Pauliac zu ihrem Projekt zurückkehren will, funktionieren die Bremsen ihres Wagens plötzlich nicht mehr. Ein Baum bringt das Fahrzeug abrupt zum Stoppen, doch Madeleine Pauliac lebt nicht mehr.
Bei der folgenden Podiumsdiskussion erzählt der Sohn von Jaqueline Heiniger, ebenfalls Mitglied der blauen Staffel, warmherzig von der lebenslangen Freundschaft seiner Mutter mit ihren Kameradinnen. Denn obwohl sich die Frauen nach der Mission auf dem gesamten Globus verteilt haben, hielten sie ihr Leben lang eine innige Brieffreundschaft und noch heute treffen sich ihre Kinder und Nachfahren in ihrem Namen.
Der Film deckt eine wahrlich besondere Geschichte auf, von den Worten der filles untermalt, begleitet der Zuschauer 12 Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und zeigt, dass es neben all dem Schrecken und Leid auch Freundschaft, Menschlichkeit und Hoffnung gibt. „Die Freundschaft gibt uns Kraft“, so lautet es in einem der Tagebücher, „denn trotz allem lachen wir viel und machen Witze“.
Beitragsbild: Clara Marie Güde