Im von Rastlosigkeit und Konsum geprägten Kapitalismus fällt es oft schwer, stehen zu bleiben und durchzuatmen. Inmitten der Lautstärke und Lichter der Städte, dem Stress im Beruf oder in der Uni, und den allgegenwärtigen Smartphones, Tablets, Fernsehern und sonstigen digitalen Ablenkungen, nähern wir uns langsam dem Ende des Jahres. Wir wollen einen Blick in die Vergangenheit werfen, in eine Zeit, in der Licht und Dunkelheit, Sommer und Winter, noch das prä-digitalisierte Leben bestimmten und die letzten Monate des Jahres verschiedenen Traditionen gewidmet waren.
Die Herbst-Tagundnachtgleiche
Am 21. September begegneten wir dem Wendepunkt des Jahres – der Herbst-Tagundnachtgleiche. Das bedeutet, dass von nun an die Tage kürzer als die Nächte sein werden. „Die dunkle, kalte Zeit des Jahres naht, die vorübergehende Herrschaft der Dunkelheit“, schreibt Valentin Kirschgruber, Landwirt auf einer Alm im Allgäu und zugleich Autor und Experte für die vergessenen Bräuche und Traditionen rund ums Kalenderjahr. Gerne wird im Zusammenhang mit dieser dunklen Jahreszeit auf vorchristliche Rituale der Kelten oder Germanen eingegangen – Tamfana (laut General Tacitus ein Fest für eine germanische Göttin) oder das altirische Blas an Fhomair (symbolischer Tod einer Tänzerin, die durch den Stab eines Druiden wiedererweckt wird) finden für gewöhnlich Erwähnung. Wer sich ein wenig mit diesem Thema auseinandersetzt, weiß leider, dass die mythischen Riten, paganen Feste und Dergleichen zum Großteil von Besatzungsmächten im Laufe der Christianisierung erdacht oder zumindest ausgeschmückt wurden. Die uns zugänglichen Quellen stammen vor allem aus der Feder der Römer und deren eventueller Wahrheitsgehalt kann nicht mehr nachgewiesen werden.
Können wir somit auch leider keine genauen Aussagen über die Bräuche der Vergangenheit treffen, so lohnt es sich doch, einen Blick zurück zu werfen – nur eben nicht ganz so weit. Auch heute noch gibt es Menschen, vor allem abseits der Städte, im Allgäu oder auch im Schwarzwald, die ihr Jahr mit traditionellen Riten durchziehen. Die Herbst-Tagundnachtgleiche, an der Helles und Dunkles ausgeglichen ist, markiert für Landwirt*innen das Ende des Erntens – folgt man dem Rhythmus der Natur (und wurde nicht von den Auswirkungen des Klimawandels heimgesucht), so sind die Vorratskammern nun gefüllt und man macht sich daran, sich auf die dunklen Monate vorzubereiten.
Geistiges Vorbereiten auf die dunkle Jahreszeit
Nicht nur physisches Einbringen der Ernte und anschließendes Ruhen prägen traditionell die Herbst-Tagundnachtgleiche, sondern auch psychisches. Sich in der Stille hinzusetzen und über die Zusammenhänge zwischen unserem geistigen Säen und Ernten nachzudenken, lohnt sich und die besinnliche Herbstzeit ist dafür perfekt geeignet. Das Erntedankfest steht ebenfalls vor der Tür und so fällt es leichter, auch für andere Lebensbereiche Dank zu empfinden. Traditionell gehört zum Erntedank auch ein Dankopfer – die Konsequenz des Dankens für den Überfluss ist also idealerweise eine entschiedene Handlung gegen Gier und Unersättlichkeit, ein Akt entgegen dem Gedankengut des Kapitalismus. In vielen Kirchen wird in dieser Jahreszeit ein Altar oder Tisch mit Opfergaben aufgestellt, auch in privaten (Bauern)häusern überall im Allgäu sorgen die traditionsbewussten Familienmitglieder für ein Dankopfer. Schon im Mittelalter war es üblich, die Gaben dieses Erntealtars an weniger gut gestellte Menschen zu verteilen – auch heute ist dies noch Brauch.
Voraussagen über die Zukunft
Die Herbst-Tagundnachtgleiche ist nicht nur ein guter Wendepunkt, um zurück zu blicken und zu danken, sondern auch ein Indikator für die Zukunft. Es gibt verschiedene „Bauernregeln“, die sich auf diese Jahreszeit beziehen. Drei ausgewählte Reime findet ihr als Zitate weiter unten.
„Ist Matthäus (21.09.) hell und klar, gute Zeiten bringt’s fürwahr.“
„Stellt sich zu Herbstbeginn viel Nebel ein, wird viel Schnee im Winter sein.“
„Matthäuswetter hell und klar, bringt guten Wein im nächsten Jahr.“
Wolf-Dieter Storl ist Ethno-Botaniker und Anthropologe – eine Koryphäe im Allgäu. Der 80-Jährige verbringt seine Zeit stets draußen in seinem Garten oder in den angrenzenden Wäldern. Er hat sein Leben lang den Rhythmus der Natur studiert und versucht, im Einklang mit ihm zu leben. „Wir selbst sind Natur, sind Teil der Natur. Es ist nicht so, dass die Natur etwas anderes wäre, sie ist nicht außerhalb von uns”, so treffend hat er es beschrieben. Macht es uns die Postmoderne auch zunehmend schwerer, überhaupt noch den Einfluss unserer natürlichen Umgebung auf uns wahrzunehmen, so fungieren die traditionellen Festtage und Bräuche als Erinnerungsstützen. Sie markieren besondere Zeiten im Kalenderjahr, die ein Innehalten und Besinnen provozieren wollen. Der Herbst-Tagundnachtgleiche folgen Allerheiligen (dem Fest, dem Halloween entsprungen ist – All Hallow’s Eve), Allerseelen, der Martinstag und natürlich Samhain.
Titelbild: Sophie Traub