Das Glück der Erde…liegt in Tübingen seltener auf Pferderücken und häufiger auf Fahrradsätteln. Die guten alten Drahtesel gehören zu dieser Stadt mindestens so sehr, wie Neckarbrücke, Österberg und Stiftskirche. Dies ist eine Liebeserklärung an das Fahrradfahren, diese geliebte, gehasste, nicht immer bequemste, aber oft einfach praktischste Möglichkeit, von A nach B zu kommen.
Montags, 10:05 Uhr. Ein Fahrrad zu besitzen, heißt, eine ganz eigene Freiheit zu genießen. Die Freiheit, zehn Minuten vor Vorlesungsbeginn noch Zuhause sitzen zu können, denn: man ist ja gleich da. Dass diese Freiheit keine Garantie für Pünktlichkeit ist, merke ich jedes Mal, wenn ich kurz vor 10:15 Uhr durch eine sich-bereits-schließende Hörsaaltür auf einen noch freien Platz husche. Es ist wieder mal knapp geworden und ein bisschen verschwitzt bin ich auch. Naja. Ich hab’s ja noch geschafft und wenn ich mich nachmittags, von Busplänen völlig unbehelligt, auf den Weg nach Hause mache, weiß ich, es hat sich wiedermal gelohnt. Der Fahrtwind kühlt angenehm (also zumindest solange Sommersemester ist), ich fühle mich frei, einigermaßen sportlich und denke mir: Fahrradfahren in Tübingen? Lieb’s!
Radwege in Tübingen – gut aber hügelig
Ich lieb’s zum Beispiel, dass Fahrradfahrende in der unerbittlichen Nahrungskette des deutschen Straßenverkehrs zumindest in dieser Stadt ziemlich weit oben stehen. Auf einer komfortabel breiten und blauen Bahn mitten in der Straße zu fahren, anstatt auf einen kleinen Randstreifen verbannt zu werden, auf dem der Luftzug vorbeirasender Autos wie Atem im Nacken sitzt, fühlt sich gut an, das muss man zugeben. Fast so gut, wie den Neckar auf einer eigens gebauten Fahrradbrücke zu überqueren. Wenn das eigene Rad dort nachts über den Weg rollt, der einem schon von weitem Dank seiner Beleuchtung entgegen strahlt, dann könnte man vor lauter Komfort schon fast überheblich werden – bis zur nächsten Steigung.
Denn: Ich lieb’s ganz eindeutig nicht, dass eine Stadt mit so verlockenden Radwegen so ganz und gar unverlockende Hügel hat. „Tübingen warum bist du so hügelig?“ ist für mich an einem Mittwochnachmittag eine Frage, die ich mir am Rand der Verzweiflung stelle. Ich habe einen Arzttermin…gehabt, vor zehn Minuten. Warum Google Maps der Ansicht war, ich schaffe es mit meinem Fahrrad mal eben so in 15 Minuten auf die nächste Anhöhe, ist mir ein Rätsel. Während ich so nach mehr Sauerstoff und dem richtigen Weg gleichzeitig suche, zieht langsam, aber stetig ein Rentner auf seinem E-Bike an mir vorbei. Der Neid, den ich bei einem Blick auf seinen Motor verspüre, fühlt sich endgültig wie eine Niederlage an. Die letzten Meter bis zur Praxis schiebe ich. Zu spät bin ich ohnehin schon.
Vom täglichen Radwegwahnsinn
Trotzdem, auch wenn die vielen bergauf-Wege der Fahrrad-Liebe vielleicht im Weg stehen könnten, kein Fortbewegungsmittel passt besser zu Tübinger*innen als der Drahtesel, auf dem auch gerne mal mehr als ein*e Fahrer*in Platz findet.
Beliebte Mitfahrende sind zum Beispiel Topfpflanzen – gefährlich wackelnd im Fahrradkorb verstaut – Bücherstapel auf dem Gepäckträger, unter den Arm geklemmte Regalbretter oder – auch das habe ich neulich gesehen – ein Stuhl, der hinten auf dem Rad beinahe zum Mitfahren einlädt. Wer sagt denn auch, dass nur Menschen umweltschonend und bewegungsfördernd auf den Tübinger Radwegen transportiert werden können? Stressfrei ist so ein Transport natürlich nicht, aber wann ist Radfahren schonmal stressfrei?
Gut, manchmal ist es das. Fährt man zum Beispiel im Abendrot hinter dem Österberg entlang, trifft man nicht nur außer friedlichen Spaziergänger*innen und dem*der ein oder anderen Kleingärtner*in niemanden, man kann sich bei gutem Wetter sogar vorstellen, man radle gerade durch eine Heimatfilmkulisse. Kitschig, aber irgendwie auch ziemlich schön.
Meistens aber, sitzt zumindest mir eine zügig radfahrende Person im Nacken, die nur auf die nächste Gelegenheit wartet, mich zu überholen. Oder ich bin die zügig radfahrende Person, die eigentlich dringend irgendwo hin muss und jetzt hinter einer Gruppe feststeckt, die anscheinend während der Fahrt jeden Zentimeter des Wegs genau inspizieren muss. Die Versuchung, ein waghalsiges Überholmanöver (das vielleicht noch eine rote Ampel involviert) zu starten, ist groß – obwohl ich ganz genau weiß, wie oft ich mich selbst über ähnliche Aktionen aufrege. Aber was tut man nicht alles, um ein paar Minuten früher anzukommen? Vor allem zu Stoßzeiten ist Radfahren auch immer ein bisschen Anarchie.
Dafür sorgen jedoch nicht nur die Personen auf zwei, sondern auch die auf vier Rädern. Die Kämpfe, die Tag für Tag in dieser kleinen Stadt zwischen Radfahrer*innen und Autofahrer*innen ausgefochten werden, sind hart – und oft beinahe ideeller Natur. So scheint es zumindest, wenn der schöne, blau eingezeichnete Fahrradweg unter verchromten Felgen verschwindet, die an der Ampel unbedingt auch in der ersten Reihe stehen wollen. Da bringt es dann auch wenig, dass die Ampel für Räder früher auf Grün springt. Wo kein Durchkommen ist, ist kein Durchkommen und irgendwie schaffen es PKWs immer wieder, einem unangenehm dicht auf die Pelle zu rücken – egal, wie breit der blaue Streifen ist.
So wie an einem Samstag im August. Es hat gerade geregnet und tiefe Pfützen stehen auf der Straße, aber jetzt scheint die Sonne, der Asphalt glitzert, es könnte alles schön sein…Denke ich noch, als ich höre, wie sich ein Auto nähert. Ich frage mich noch, ob es die Pfütze wohl umfährt, die sich am Rand des Radstreifens gebildet hat – Platz genug wäre gewesen – da schlägt eine Welle Regenwasser über mir zusammen. Duschen brauche ich heute wohl nicht mehr. Als sich der Übeltäter entfernt, scheinen mir seine Rücklichter beinahe hämisch zuzugrinsen. Ob da jemand absichtlich vor der Pfütze nochmal Gas gegeben hat?
Fahrräder gehören einfach zu Tübingen dazu
Ach ja, Fahrradfahren in Tübingen. Wahrscheinlich würde ich es weniger lieben, wenn es weniger aufregend wäre. Das rede ich mir zumindest ein. Fest steht jedenfalls, dass es aus meinem Alltag hier nicht mehr wegzudenken ist. Neulich war mein Rad kaputt. Bis ich es repariert hatte, war eine Woche vergangen, die sich zwar mit Bussen gut bewältigen ließ, in der ich aber trotzdem meine eigene kleine Freiheit, den Fahrtwind um die Nase und das tägliche Radweg-Drama vermisste. Wenn ich also jetzt nach einem langen Tag meinen Drahtesel aufschließe (immer ein bisschen froh, wenn er abends da ist, wo ich ihn morgens abgestellt habe) und darauf vertraue, dass ich mich selbst gut nach Hause bringe, denke ich mir: Ja. Lieb’s.
Titelbild: Paula Baumgartner