Gemäldegalerie und Elektromusik? Was etwas widersprüchlich klingt, fand am 19. Mai 2022 in der Kunsthalle Tübingen statt. In einem außergewöhnlichen Projekt stellte die Elektro-Band MINIMALIFE musikalische Beziehungen zu den Werken des Expressionismus her, die in der Ausstellung HERZSTÜCKE zu betrachten waren. Ein Rückblick auf die Ausstellung und ihre musikalische Begleitung.
Seit März diesen Jahres wurden in der Kunsthalle Tübingen die HERZSTÜCKE der Sammlung Kunsthalle Emden ausgestellt. Dabei handelt es sich um 70 Hauptwerke der Sammlung, die einen Gang durch die expressive-figurative Kunst des 20. Jahrhunderts ermöglichen. Künstler*innen der Ausstellung sind beispielsweise Franz Marc, Gabriele Münter, Emil Nolde, Hermann Max Pechstein und Pablo Picasso.
“Ich habe das gesammelt, was Lust in mir erweckt hat, was mich bis unter die Haut schmerzte, mich freute oder mich auch wütend gemacht hat.”
– Henri Nannen
Gründer der Sammlung ist Henri Nannen (1913-1996), langjähriger Chefredakteur des Magazins Stern. Über Jahrzehnte hinweg hat er eine beeindruckende Sammlung erschaffen können, die er schließlich der Kunsthalle Emden stiftete und die 1986 eröffnet wurde. Die Tübinger Ausstellung wurde von Dr. Nicole Fritz kuratiert, assistiert von Lisa Maria Maier.
Die Herzstücke der Kunsthalle Emden zu Gast in Tübingen
Subjektive Empfindungen stehen im Mittelpunkt expressionistischer Kunst, welche ihre Anfänge und Vorläufer zwar schon im ausgehenden 19. Jahrhundert hat, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer bedeutenden künstlerischen Strömung wird. Der Künstler soll sich dabei subjektiv, emotional, unmittelbar und unverfälscht ausdrücken. Mit vereinfachten Formen und reinen Farben werden Emotionen und Erlebnisse zum Ausdruck gebracht und spiegeln das vitale Gefühlsleben der Künstler*innen wieder.
Auch das Motiv der Sehnsucht nach Harmonie von Mensch und Natur ist zentral, weshalb Franz Marcs DIE BLAUEN FOHLEN mit einfachen Formen und satten Farben nicht ohne Grund programmatisch für den Expressionismus steht. Dieses Werk kann als eines der ersten Gemälde im Foyer der Kunsthalle betrachtet werden, in dem insbesondere die bekannten Meisterwerke der deutschen Expressionisten zu sehen sind. Charakterisiert ist dieser Raum daher von markanten Formelementen, flächenhaften Kompositionen, scheinbar spontanen Pinselführungen und der Starkfarbigkeit der Gemälde.
Im zweiten Ausstellungsraum werden die Besucher*innen dann mit verschiedenen Gemälden überrascht, die Momente aus dem Leben von Kindern darstellen. Das Kind gilt im Expressionismus als Synonym für das Unverstellte und Natürliche, und wird als ursprünglich und authentisch idealisiert. Im dritten Raum steht hingegen vor allem die Figur der Frau im Mittelpunkt.
Das Betreten des vierten Ausstellungsraums stürzt die Besucher*innen in die expressive Malerei der Nachkriegszeit. Die Werke in diesem Raum sind geprägt von abstrakten Figuren und stellen teilweise schon fast kindlich dämonische Fabelwesen, Trolle und Chimären zur Schau. Gruppierungen wie CoBrA (1948-1951) und SPUR (1957-1965) wollten mit ihren Werken eine übernationale Malerei der Zukunft entwerfen und forderten eine Rückkehr zu den ursprünglichen Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen des Expressionismus: intuitiv und assoziativ.
Der rote Faden der Ausstellung wird mit dem fünften Ausstellungsraum noch bis in die Gegenwart gezogen. In satten, fast schon leuchtenden Farben lassen sich hier skurrile Tier-, Menschen- oder Landschaftsformen finden, die die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen auf sich ziehen. Die Künstler*innen führen mit ihren Werken inmitten von Inidivdualstilen die Tradition des Expressionismus weiter und stellen Landschaften, Menschen und Tiere so dar, wie sie sie sehen und fühlen.
Abschließend können die Besucher*innen das Projekt der KI-Künstlergruppe Lunar Ring bestaunen, die für diese Ausstellung eingeladen wurden, um die expressionistischen Werke der Ausstellungen nun zu neuen Visuals in einem unendlich fortlaufenden Bilderstrom zu verknüpfen. In ihrer neuesten Arbeit MAL MIT MIR! (2021) können die Besucher*innen ihre eigene Zeichnung in ein expressionistisches Gemälde verwandeln lassen und so ein interaktives Spiel zwischen Mensch und Maschine führen.
Am 19. Mai bot sich den Besucher*innen der Kunsthalle jedoch nicht nur die beeindruckende Ausstellung selbst, sondern auch ein musikalisches Ereignis. Das Musikerduo MINIMALIFE, bestehend aus Misha Antonov and Mirko Perencevic, komponierte für die Ausstellung der Herzstücke eine Reihe an Musikstücken, die die Ausstellung und jeweiligen Räume musikalisch umrahmten.
MINIMALIFE: Klavier und Elektrobeats
“Enough is never too little.”
Dieser Satz von Seneca dient MINIMALIFE als Motto und Namensgeber für ihre Musik, die mit wenigen Instrumenten eine große Wirkung erzeugt. Das Equipment besteht nämlich nur aus einem Piano, Schlagwerk und einem Mischpult. Es ist diese Mischung aus analogen Instrumenten und digitalen Sounds, die eine einzigartige Klangwelt schafft. Der Unterschied zu herkömmlicher elektronischer Musik ist der Entstehungsprozess. Anstatt dass der Beat am Computer erzeugt, gemischt und vielleicht noch eine Instrumentalspur darübergelegt wird, entsteht der Sound hier live während der Aufführung. So wirkt die elektronische Musik spontan und lebendig.
Improvisation ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Werke. Auch ein ständiges Reagieren auf das Publikum und die Umgebung seien ein guter Weg, um die Stücke zu gestalten, erzählen die Künstler. Oft entsteht die Musik von MINIMALIFE also erst während des Aufführungsprozesses und klingen daher jedes Mal individuell und einzigartig.
Kunsthalle feat. MINIMALIFE
An jenem Donnerstagabend gestalteten die Musiker von MINIMALIFE eine auditive Spiegelung der Ausstellung HERZSTÜCKE. Was man sich darunter vorstellen kann, ist eine einstündige musikalische Tour durch die Räume der Kunsthalle. Vor ausgewählten Bildern wurde schnell eine Piano-Mischpult-Konstruktion aufgebaut, auf der die Künstler ihre thematisch passenden Kompositionen spielten. Dabei war die Musik von Assoziationen und Improvisationen geprägt.
“Unsere Kompositionen sind wie eine Reaktion auf die Kunstwerke und zeigen damit genau die Wirkung, die sich die Künstler*innen des Expressionismus gewünscht haben: intuitiv und assoziativ”,
erzählt Misha Antonov im Gespräch mit der Kupferblau. Dadurch klingen ihre Stücke auch nie genau gleich.
Eine enge Verbindung zur Kunst haben die beiden Musiker schon seit ihrer Kindheit. So wurde vielleicht auch die ungewöhnliche Idee angeregt, Kunstausstellungen in Musik umzuwandeln. Besonders persönlich ist dabei die Beziehung zu den Kunstwerken der Nachkriegszeit. Mirko Perencevic, der aus Kroatien stammt und den Balkankrieg selbst durchlebte, hat seine Erfahrungen in das Stück zu diesen Bildern eingewoben. Auf der Grundlage eines langen an- und abschwellenden Tones, der die Assoziation von Fliegersirenen hervorrief, entspann sich ein tief bewegender, wortloser Klagegesang. Seine emotional erschütternde Wirkung setzte sich direkt im hochkonzentrierten, ergriffenen Publikum um.
Abgeschlossen wurde die Vorführung von einer Komposition, die als musikalische Spiegelung die Gesamtheit der ausgestellten Herzstücke reflektieren sollte. Dieses letzte Stück zeichnete sich vor allem durch seine melodischen Klavierpassagen ab, die mit ihrem vollen Klang in spannungsvollem Kontrast zum klaren, rhythmischen Beat des Schlagwerkes und der elektronischen Elemente stand. Nach einer kurzen Pause folgten einige Stücke aus dem Repertoire der Band. Der mitreißende Sound der Musik lud die Besucher*innen der Veranstaltung zum ausgelassenen Tanzen ein. In einem dunklen Museum zwischen den angeleuchteten Gemälden zu tanzen, bringt eine außergewöhnlich stimmungsvolle Atmosphäre mit sich. Diese intermediale Herangehensweise zeigte sichtlich Erfolg: an jenem Abend war deutlich zu beobachten, wie die Musik eine ganz neue Interaktionsmöglichkeit zwischen der Kunst und den Betrachter*innen herstellen konnte.
Da die Ausstellung HERZSTÜCKE nur bis zum 06. Juni lief, können Kunstinteressierte ab dem 02. Juli nun die Ausstellung des einflussreichen Aktions- und Konzeptkünstlers Christian Jankowski (*1968 Göttingen) besuchen, wobei Studierende donnerstags freien Eintritt erhalten. Empfehlenswert sind auch die verschiedenen Führungen und Veranstaltungen für Jung und Alt, die die Kunsthalle anbietet.
Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit der beiden Redakteurinnen Helena Geibel und Katharina Steffen.
Bilder: Titelbild sowie Bild 1-3: Ulrich Metz. Bild 4: Johannes Feederle. Bilder 5-8: Helena Geibel.