Zwischen Dreadlocks und bunt gefärbten Haaren geistert seit geraumer Zeit noch ein weiterer, besonderer Look durch die Gassen Tübingens: Die Glatze – auch liebevoll ‘Egghead’ genannt – begleitet mich jetzt fast schon 2 Jahre. Das ist meine Geschichte.
Manche Menschen scheinen von Haus aus selbstbewusst zu sein, andere müssen hart dafür arbeiten und wieder andere tun einfach nur so, als wären sie’s. Was oft vergessen wird, ist die fragile Natur des eigenen Selbstbewusstseins.
Bis zu meinem 19. Lebensjahr strotzte ich nur so vor Selbstvertrauen, ich wusste von meinen Stärken und Schwächen. Dann plötzlich der Schock: Morgens um zwei, beim Blick in den verschmierten Spiegel einer Bar, fällt mir neben meinen tennisballgroßen Augenringen und dem halbleeren Bier in meiner Hand plötzlich auf, wie ich im kalten Licht gut meinen Haaransatz erkennen kann (Dieser Moment wird im Folgenden ‘Stunde 0’ genannt).
Der schlafende Tiger war geweckt. Immer öfter suchten meine Augen von nun an Spiegel, vor denen ich mir in unbeobachteten Momenten durch die Haare fuhr und mit Schrecken feststellen musste, dass jedes Mal weniger Haare auf meinem Kopf und mehr an meiner Hand zu kleben schienen. Mit knapp 20 Jahren konnte das doch nicht normal sein.
Mein Vater – zu der Zeit Ende 50 – erfreute sich zwar keiner Headbanger-Axl-Rose-Matte mehr und die Geheimratsecken hatten mittlerweile auch schon mehr Platz auf der Kopfdecke für sich beansprucht als die schwarz-grauen Borsten, aber ich kannte Bilder von ihm in seinen 20ern. Der Mann sah in den 80ern aus wie ein junger John Travolta. Auf Nachfrage von mir durfte ich mir zum x-ten Mal in meinem Leben die Geschichte anhören, wie er früher kaum einen Kamm durch sein dickes, schwarzes Haar bekam und wurde belehrt, dass meine Situation nichts mit unserem Erbgut zu tun haben könne.
In den ersten Monaten nach Stunde 0 konnte ich meiner Haarpracht regelrecht beim täglichen Verfall zuschauen und nichts tun, außer nach jedem Duschgang die traurigen Überreste meiner einst so wundervollen Tolle aus dem Abfluss zu fischen.
Mit jedem Haar, das sich von seiner Wurzel verabschiedete, schien sich auch ein Teil meines Selbstbewusstseins von mir zu trennen. Der einzig logische Schritt: Dem Rat des In-der-Tat-Laborchefs Dr. Klenk folgen und versuchen, die Wachstumsphasen der Haare durch Alpecin zu verlängern.
In der Tat hielt ich das ganze Konzept für fragwürdig und setzte (vernünftigerweise) nicht viel Vertrauen in das Baby des wohl schauspielerisch unbegabtesten Wissenschaftlers Deutschlands. Während meine Haare nach und nach ‘nen Französischen machten und die Platte auf meinem Schädel immer größer wurde, musste ich eine schwerwiegende Entscheidung treffen.
Mir blieb nichts anderes übrig, als nach über 20 Jahren zum Mützenträger zu werden. Die Snapback war von nun an mein ständiger Begleiter, mein Schutz vor den verhöhnenden Blicken meiner Mitmenschen.
In den seltenen Momenten, in denen ich die Cap vergaß, fühlte ich mich dem giftigen Starren im Bus oder beim Einkaufen ausgesetzt: Überzeugt, dass alle Kunden im Edeka interessierter an dem kahlen Fleck auf meinem Kopf, als an jedem Angebot waren. Besuche im Freibad, Strandurlaube und Ausflüge an Seen lösten Stresszustände, wie beim Versuch, ein Buddhatattoo auf dem Arm vor deiner erzkatholischen Mutter zu verbergen, aus.
Zwei Jahre lang erblickten die Reste meiner Haarpracht das Sonnenlicht fast nicht mehr. Selbst zu großen Festen traute ich mich nicht, die Cap daheim zu lassen. Ich war der komische Typ, der auf einem 50. Geburtstag zwischen Anzügen und schönen Kleidern im Hemd und Vans-Cap rumtanzte.
Als mir – und vor allem meiner Mutter – das Ganze zu dumm wurde, vereinbarte ich einen Termin in der Hautklinik in Tübingen, um checken zu lassen, ob ich die Hölle der letzten paar Jahre einfach nur durchstehen musste, weil ich unter Eisenmangel litt. Eine Haarprobe später stand fest: Männerhaarausfall, erblich bedingt, irreversibel. Kannsch nix machen, ey.
Nach der Diagnose ‘Hoffnungslos’ war mir klar, dass ich die Wahl hatte, eine von diesen Halbglatzen zu werden, der sich jeden Morgen fünf Haare über die glänzende Haut kämmte, irgendwann mit Cap vor dem Traualtar zu stehen – oder mir meinen restlichen Schopf komplett abzurasieren.
Letzteres schien mir die einzig passable Idee zu sein. Aber so richtig eingestehen konnte ich mir das aber erstmal nicht. Familie und Freunde wussten natürlich auch von diesen Überlegungen. Wenn sich nach ein paar Bier das Gespräch wieder einmal um meine Haare drehte, ließ ich öfter mal den Satz „Hätten wir jetzt einen Rasierer da, würde ich mir die Haare sofort abrasieren“ fallen. Es kam natürlich wie es kommen musste. Wochenende in München. Bier da. Satz da. Rasierer da. Haare ab.
Vor fast zwei Jahren habe ich mir die Haare abrasiert. Seitdem muss ich jede Woche mit der Maschine drüber, um nicht auszusehen wie eine gigantische Kiwi. Mittlerweile fühle ich mich unglaublich wohl in meiner Haut und kann dazu stehen, dass meine Haare sehr viel Mut zur Lücke haben.
Freibäder, Strände und Seen stellen nur noch ein Problem für mich dar, weil ich gerne Sonnencreme vergesse und meine Kopfhaut unter den 0,8 mm kurzen Haaren sehr lichtempfindlich ist. Die Glatze macht mich an Fasnet zum perfekten Heisenberg. Ich habe nie einen Bad Hair Day und ich dusche mittlerweile in absoluter Rekordzeit.
Das Abrasieren war ein Neuanfang, den ich nicht bereue und den ich jederzeit wieder genau so durchziehen würde. Manchmal hadere ich ein bisschen damit, dass ich mein restliches Leben dieselbe Frisur tragen werde, aber wenn The Rock, Bruce Willis und Terry Crews das können, dann schaffe ich das auch.
Fotos: Rafael Keroglou
Wunderschön.