Politik

Serbische Studierende kämpfen für Gerechtigkeit

Seit über einem Jahr protestieren junge Menschen in Serbien gegen das korrupte System des Präsidenten Aleksandar Vučić. Was treibt sie an? Und gibt es Aussicht auf Erfolg? Wir sprechen mit einer beteiligten Studentin und der Historikerin Daniela Simon.

Am 1. November 2024 stürzte in Novi Sad das Vordach des Bahnhofsgebäudes ein, nur wenige Monate nachdem es renoviert worden war. 16 Menschen kamen dabei ums Leben. Für viele junge Serb*innen war diese Tragödie ein weiterer Beweis für das korrupte autoritäre System, das unter Präsident Aleksandar Vučić in Serbien besteht. Tausende Studierende gingen auf die Straßen und protestierten – und das bis heute. Seit einem Jahr ist das Land nun im Ausnahmezustand.

Massenprotest zur Gedenkveranstaltung

Am Jahrestag des Einsturzes, dem 1. November 2025, fand in Novi Sad eine große Gedenkveranstaltung statt. Aus ganz Serbien strömten Menschen in die 300.000-Einwohner*innen-Stadt, um an die Opfer zu erinnern. Laut dem Archiv für öffentliche Versammlungen kamen 110.000 Menschen zusammen.

Auch die 22-Jährige Irina Savić nahm an der Gedenkveranstaltung teil. Die Anglistik-Studentin ist seit der ersten Stunde bei den Protesten dabei. Sie erzählt im schriftlichen Gespräch mit der Kupferblau davon, wie betroffen sie der Vorfall immer noch macht: „Neben dem Wunsch nach Gerechtigkeit trage ich auch eine schwere Traurigkeit und Wut in mir. Ich habe den Ort der Tragödie im letzten Jahr unzählige Male besucht und jedes Mal musste ich weinen.“

Die Studierenden organisieren zu jedem Monatsersten eine Gedenkveranstaltung in Novi Sad. Auch Irina Savić ist oft mit dabei (links vorne). Bild: Lilit Andrić

Universitäten im Ausnahmezustand

Um der Trauer etwas entgegenzusetzten, organisierten Studierende in den letzten Monaten große Protestmärsche, blockierten Straßen und besetzten Universitäten im ganzen Land. Sie fordern nach wie vor die vollständige Aufklärung des Einsturzes, Konsequenzen für die Verantwortlichen und seit dem Frühjahr auch Neuwahlen. Irina und ihre Kommiliton*innen lebten über Monate in den Räumen der Philosophischen Fakultät der Universität Novi Sad. Das Studium und der komplette akademische Lehrbetrieb waren durch die studentischen Blockaden vorübergehend auf Eis gelegt.

Im September räumte die Polizei nach monatelanger Besetzuhng die Philosophische Faktultät in Novi Sad. Bild: Lilit Andrić

Im Herbst gelang es einigen Dekan*innen, die Blockaden an den Universitäten zu beenden: Indem sie die Polizei riefen und die Studierenden hinauswerfen ließen. Für Irina war das ein radikaler Vertrauensbruch. Die Atmosphäre an der Universität sei jetzt eine andere: „Es ist seltsam, zum gewöhnlichen Unibetrieb zurückzukehren, nachdem viele Studierende ein ganzes Jahr lang in denselben Fakultäten geschlafen haben, in denen sie jetzt den Vorlesungen lauschen“, schildert die Studentin. „Für mich war es ein Schock, die Blockade wurde vom Dekan und der Polizei gewaltsam aufgelöst, alle unsere Sachen wurden in einen Raum geworfen und es wird versucht, so zu tun, als wäre nichts passiert.“

Eine Bewegung ohne Führung?

Wie lässt sich diese große Bewegung fassen? Wer sind die Protestierenden und wofür kämpfen sie? Bei den Protesten handele es sich um eine basisdemokratische, dezentrale Bewegung, meint die Historikerin Daniela Simon vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Im Zentrum der Proteste stehe der Kampf gegen die Korruption, die das Land bestimmt und sämtliche Gesellschaftsbereich durchzieht. Die Forderung nach Neuwahlen ziele darauf ab, die Regierung von Präsident Vučić abzuwählen und das politische System von der Korruption zu befreien, so Simon.

Die rote Hand ist das Symbol der Proteste. Sie soll zeigen, dass an den Händen der Verantwortlichen das Blut der 16 Opfer des Einsturzes klebt. Bild: Lilit Andrić

Dabei lasse sich diese Bewegung, anders als in der Vergangenheit, nicht durch die Opposition vereinnahmen. Allerdings biete sie aktuell keine Alternative, denn die Studierenden selbst wollen sich nicht zur Wahl stellen. „Niemand, keine einzige Person ist bisher in Erscheinung getreten als führende Person, sodass von der gegenwärtigen Regierung auch niemand als Übeltäter gebrandmarkt werden konnte“, sagt Simon. Angesichts der Kampagnen regierungstreuer Medien gegen die Protestierenden und gewaltsamem Vorgehen der Sicherheitskräfte auf Demonstrationen im Sommer sei das auch eine Strategie, um die Bewegung zu schützen.

Frauen als gezielte Opfer von Polizeigewalt

„Einige meiner Kommiliton*innen erlitten durch Polizeiknüppel Platzwunden am Kopf und Prellungen durch Gummigeschosse“, erzählt Irina. Sie selbst sei während Demonstrationen mehrmals von Autofahrern bedrängt worden, die direkt vor ihren Füßen angehalten hätten. Frauen seien dabei eine besondere Zielscheibe. Neben körperlicher Gewalt der Polizist*innen würden Frauen gezielt diskreditiert, sagt die Studentin: „Mehrere meiner Kolleginnen wurden von den regierungsfreundlichen Medien ins Visier genommen, die sie in der Regel als psychisch labil und sogar hysterisch darstellen, um sie zu diskreditieren und ihren Ruf zu schädigen.“

Frauen stehen bei den Protesten oft an vorderster Front – und sind eine besondere Zielscheibe für körperliche und sexualisierte Gewalt durch die Sicherheitskräfte. Bild: Lilit Andrić

Die Historikerin Simon kann diese Erfahrungen bestätigen. In der patriarchal geprägten Gesellschaft, in der Frauen als schwächere Glieder wahrgenommen würden, solle das Vorgehen abschrecken und Frauen von der Straße verdrängen. Allerdings gehe diese Strategie nicht auf – im Gegenteil: Frauen stehen seit Beginn an vorderster Front der Proteste und bringen sich aktiv ein. Die Geschlechterverhältnisse sind ausgewogen und neben dem Kampf gegen die Korruption spielen auch feministische Anliegen eine Rolle.

Längst sind die Proteste kein Randphänomen junger Menschen mehr. Weite Teile der Gesellschaft stehen hinter den Protesten und versuchen, die Studierenden zu unterstützen. Neben Menschen aus dem akademischen Umfeld solidarisieren sich Bäuer*innen, Kriegsveteran*innen, Anwält*innen, Ärzt*innen oder Taxifahrer*innen und bieten den Studierenden ihre Hilfe an. „Die Studenten mögen diese Proteste begonnen haben, aber ohne alle anderen hätten wir es nie geschafft. Die Unterstützung der Menschen ist es, die uns am Leben hält“, meint Irina.

Die Solidarität der serbischen Bevölkerung ist groß, viele Menschen bieten ihre Hilfe an. Hier verteilt eine Anwohnerin Süßigkeiten an die Teilnehmer*innen eines Protestmarsches. Bild: Lilit Andrić

Neben der Unterstützung im eigenen Land kämpfen die Protestierenden auch um internationale Aufmerksamkeit. Im Frühling fuhren Studierende mit dem Rad 1.400 Kilometer bis nach Straßburg, um an die EU zu appellieren. Andere liefen einen Protestmarathon bis nach Brüssel. Doch erst seit dem Herbst erfahren die Proteste etwas mehr internationale Unterstützung.

Westeuropäische Ignoranz statt Unterstützung

Dennoch: Die großen demokratischen Proteste bleiben in der westeuropäischen Öffentlichkeit ein Randthema, obwohl Serbien seit 2009 EU-Beitrittskandidat ist. Bei seiner Tour über den Westbalkan vor wenigen Wochen ließ der deutsche Außenminister Johann Wadephul die protestierenden Serb*innen außen vor. Anstatt auf die Proteste einzugehen und die demokratischen Kräfte zu würdigen, mahnte er Serbien generell, nicht etwa die serbische Regierung oder Vučić, an, keine gemischten Signale zu senden und sich zu entscheiden, ob es einen Kurs in Richtung der europäischen Union fahre.

Zwei resignierte Frauen blicken auf einer Protestveranstaltung zum Jahrestag ins Sonnenlicht: Ist doch Hoffnung in Sicht? Bild: Marko Antić

Simon erklärt die westeuropäische Ignoranz gegenüber den Protesten einerseits mit einer allgemeinen Krisenstimmung und zunehmender Abstumpfung. Andererseits könne auch ein orientalistischer Blick auf die Region dazu beitragen: „Wir betrachten das östliche Europa oft aus einer Hierarchieposition. Wenn etwas berichtet wird aus diesen Ländern, dann ist es etwas Schlimmes. Schlechte Nachrichten bekommen wir zu hören, aber die guten eher nicht.“ Hinzu kommt, dass Medienlogiken schlechte Nachrichten generell bevorzugen und hoffungsvolle Entwicklungen eher unter den Tisch fallen.

Die Proteste haben das Land verändert

Die Menschen in Serbien lassen sich davon nicht entmutigen. Die Proteste dauern weiterhin an. „Die Bewegung hat nicht an Kraft verloren“, meint Simon. „Sie hat sich in ihrer Struktur weiter gefestigt.“ Was treibt die Protestierenden nach so vielen Monaten an? Irina erklärt es so: „Es nicht irgendein Kampf, der nur wenige Menschen betrifft. Es ist ein Kampf zum Wohle aller Menschen, die in diesem Land leben, ein Kampf für ein gerechtes System, für ein System, das funktioniert und nicht die Augen verschließt, nur weil jemand genug Geld oder Macht hat. Wir verlangen lediglich, dass das System funktioniert, indem die Gesetze eingehalten werden.“

Kleine Erfolge können die Protestierenden bereits feiern. Die serbische Gesellschaft habe sich unwiderruflich verändert, die Menschen sprächen anders miteinander, beobachtet Simon. Und auch Irina stellt fest: „Das politische System wurde durch die Proteste so erschüttert, dass es nie wieder so werden kann, wie es einmal war. Die Menschen sind aufgewacht und haben Hoffnung geschöpft, dass es einen Weg gibt, das korrupte System, in dem wir leben, zu verändern.“

Anmerkung der Redaktion: Das schriftliche Gespräch mit Irina fand auf Englisch statt und wurde ins Deutsche übersetzt.

Beitragsbild: Lilit Andrić

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