Dark academia, fairycore, mob-wife, clean oder doch pilates girl. Wer in Zeiten von Tiktok und Instagram auf der Suche nach einer (neuen) Identität ist, scheint sie sich nur aus der Flut von Moodboards, Outfit-Inspirations und ‚Get-ready-with-me’s heraussuchen zu müssen. Die Videos und Posts, die sich in ihrem Look, den gezeigten Produkten und inszenierten Lebensstilen je nach Ästhetik unterscheiden, scheinen die unterschiedlichsten Vorlagen zur Selbstfindung zu bieten – zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten wird jedoch klar: Die Aesthetics existieren primär auf einer visuellen Ebene. Statt einem Identitätsentwurf findet man in ihnen vor allem: Farbschemata.
Im Zeitalter der Microtrends
Mit den ästhetisierten Lifestyle-, Mode- und Beauty-Videos, die in den sozialen Medien beinahe im zwei-Wochen-Rhythmus viral gehen, hat dabei ein Phänomen seinen (momentanen) Höhepunkt erreicht, das es eigentlich schon lange gibt. Trends, die festlegen wie die eigene Behausung zu gestalten sind, oder welche Kleidung in diesem Sommer aus dem Schrank – oder der Truhe – verbannt werden sollte, lassen sich nämlich schon in vielen Zeitaltern und in noch mehr Kulturkreisen beobachten.
Lange Zeit waren sie aber eher eine Sache der Oberschicht, die zum Beispiel während der Renaissance den bunten Stoffen der italienischen Mode nacheiferte oder im 17. und 18. Jahrhundert gespannt die neuesten Looks von Ludwig XIV. verfolgte. Erst die industrielle Revolution pflanzte das Trendbewusstsein in die Köpfe der stetig wachsenden Mittelschicht, für die Konsum- und Luxusgüter wie Modeartikel, Beauty-Produkte und Parfüm immer leichter zugänglich wurden.
Die TikTok und Instagram Aesthetics von heute sind jedoch mehr als bloß einzelne beliebte Kleidungskombinationen oder Make-Up Looks: Sie versprechen und inszenieren eine Identität, indem sie neben dem Aussehen auch Hobbys, Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften in den Mittelpunkt rücken.
So zeichnet sich das Clean Girl, das vor allem in der zweiten Hälfte des letzten Jahres ständig in den Social Media Feeds auftauchte, nicht nur durch seine möglichst ungeschminkte, durch Skincare perfektionierte Haut oder den sleek bun aus. Es verkörpert gleichzeitig auch eine moderne, erfolgreiche junge Frau in einer geräumigen, modernen Wohnung, die ihr Leben im Griff hat. Wer sich hingegen der Dark Academia Aesthetic verschrieben hat, stellt durch Posts nicht nur die eigene Liebe für dunkle Trenchcoats und Brauntöne dar, sondern bekennt sich gleichzeitig zu einer Liebe für Bücher (vornehmlich alte und neuere ‚Klassiker‘ – Fjodor Dostojewski, Mary Shelley oder Franz Kafka), Philosophie, romantische Kunst und klassizistische (Universitäts-)Gebäude. Am Horizont der ständig produzierenden TikTok Maschinerie tauchen so in regelmäßigem, astronomisch schnellem Rhythmus ganz neue Lebensentwürfe auf. (Clean Girl ist zum Beispiel schon wieder out, stattdessen feiern die sozialen Medien die Mob Wife Aesthetic und damit den (Lebens-)stil pelztragender Mafiabossehefrauen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts).
Mikro-Identitätssuche mit Makroproblemen
Durch das Verbreiten immer neuer Trends, scheinen sich Jugendliche und junge Erwachsene heute immer neue Folien schaffen zu wollen, um die eigenen Interessen und die eigene Persönlichkeit einzuordnen und neu zu formen. Irgendwie kann man es ihnen (oder eher uns) auch nicht verdenken – immerhin ist die Suche nach der eigenen Identität eine der grundlegenden Herausforderungen der Adoleszenz und der Weg zu sich selbst ist in vielen Fällen steinig und schwierig. Da erscheint es leicht, sich aus einer Flut von Alternativen eine passende identitäre Vorlage herauszusuchen, die nicht nur Hilfe beim Füllen des Kleiderschranks, sondern auch bei der Suche nach Hobbys oder dem Ausbilden von Interessen bietet.
Die Identitätssuche auf Microtrend-Ebene ist dabei jedoch mit Makro-Problemen verknüpft. Jede neue Aesthetic zieht einen Rattenschwanz des Konsums hinter sich her: Neue Kleidung sollte gekauft, neue Make-Up Artikel ausgesucht, das Zimmer oder die Wohnung umgestaltet werden.
Im ständigen Wettrennen um den beliebtesten Lebensstil gewinnen dabei meistens die, die in westlichen Gesellschaften ohnehin in vielen Belangen die Nase vorn haben. Nur wer Geld hat, kann sich im wöchentlichen Wechsel mit neuen Produkten ausstatten. Für den Kapitalismus sind die ästhetisierten Lebensentwürfe natürlich ein Segen – nicht zuletzt, weil viele der Aesthetics-Videos bewusst einzelne Produkte bewerben. Für die Umwelt, die mit jedem neuen Trend wieder von einer Flut billig produzierter und noch billiger entsorgter Artikel überschwemmt wird, ist der Überkonsum ein Fluch – von den ausgebeuteten Arbeiter*innen in den Fabriken zahlreicher Großkonzerne ganz zu schweigen.
Auch auf kultureller Ebene muss man nicht lange nach problematischen Zügen suchen: Die Personifizierungen der meisten Social Media Ästhetiken sind nach wie vor weiß, schlank und in vielen Fällen heterosexuell. Für Personen, die sich außerhalb westlich-europäischer Normen bewegen, sind nur selten Entfaltungsräume vorhanden und sowohl in der ästhetisierten Obsession mit der Farbe Weiß, Sauberkeit und Minimalismus als auch in der Romantisierung eines westlich-elitären Lebensstils werden rassistische Dualismen und koloniale Hierarchien am Leben gehalten.
Von der Macht der Farbpalette
Die Liste der Problematiken (und adäquater Beispiele) ließe sich hier weit ausdehnen, aber kehren wir zum eigentlichen Punkt zurück – zur Farbenlehre. Denn bei allen Diskussionen über die Social Media Lebensentwürfe und ihre impliziten (oder expliziten) Problematiken darf eines nicht vergessen werden: Die Videos inszenieren in erster Linie keine Identitäten, sondern vor allem Farbschemata. Es ist kein Zufall, dass sich einem Großteil der Aesthetics eine bestimmte Farbpalette zuordnen lässt – pilates girl-Posts zeichnen sich durch Weiß, sehr helles Grau und Pastelltöne (Rosa!) aus, ähnlich zu clean girls; Die mob-wife vereint dunkle Brauntöne, Rot und Schwarz, in dark academia Posts dominieren Erdtöne, Braun und Beige, cottagecore präferiert grün und blau (gerne kariert mit weiß) und so weiter.
In ihrer Obsession mit Farbkombinationen zeigt sich dabei der wahre Charakter der Ästhetiken: Für TikTok und Instagram erschaffen sind sie vor allem eines: visuelle Werke. Nicht mehr und nicht weniger. Vor unseren Augen inszenieren sie Welten, in denen das Leben perfekt, oder zumindest farblich abgestimmt ist. Diese in den eigenen Alltag zu übertragen, ist wahrscheinlich, egal wie viel Mühe wir uns geben, utopisch und das ist auch okay: Denn auch wenn es nicht schaden kann, hin und wieder ästhetisch gefilmte Videos zu Rate zu ziehen, am Ende unserer Identitätssuche sollte mehr stehen, als glorifizierte Farbschemata, die endlosen Konsum verlangen, bestimmte Erscheinungsformen normieren und vor allem für eine Social Media Plattform existieren. Sind wir ehrlich, wir sind alle mehr als das.
Titelbild: Pixabay