Die neue Netflix-Doku über Haftbefehl von Sinan Sevinch und Eric Moreno zeigt einen Künstler zwischen Ruhm, Sucht und Selbstzerstörung. Der Film ist fesselnd, sagt aber letztlich mehr über die Kulturindustrie aus als über Haftbefehl selbst. Eine Kritik.
Im Zentrum steht Aykut Anhan alias Haftbefehl, ein Musiker, der durch seinen unverwechselbaren Rap-Stil und seine Offenbacher Herkunft zu einer Identifikationsfigur wurde. Die Doku beginnt gleich mit dem Ende – einem geschwächten Künstler, gezeichnet vom Drogenkonsum – und entfaltet von dort aus seine Geschichte rückwärts: vom Aufstieg aus prekären Verhältnissen bis zum Absturz in Abhängigkeit und Depression.
Dieses Erzählschema ist altbekannt, doch die Regisseure setzen ganz auf emotionale Wucht. Nahaufnahmen, nachgestellte Szenen, dramatische Musik – all das erzeugt Intensität, aber keine Einsicht. Das Leid wird ästhetisiert, zur Ware gemacht, zum Bild, das Klicks generiert.
Kontextblindheit
Die Kamera klebt an der Figur, doch nie am Kontext. Kaum ein Wort fällt über die sozialen Bedingungen, die Haftbefehls Biografie geprägt haben: Armut, Migration, strukturelle Ausgrenzung. Offenbach wird zur Kulisse für eine individuelle Tragödie, nicht zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Fragen. Auch ökonomische Mechanismen der Musikindustrie bleiben angedeutet, aber unerklärt. Der kurze Hinweis auf ein „brutales Business“ wird sofort wieder fallengelassen – als dürfe der Film die Strukturen, die er mitinszeniert, nicht wirklich berühren.

Diese Fixierung auf das Individuum zieht sich durch die gesamte Erzählung. Trauma, Drogen, familiäre Konflikte – alles wird psychologisch verengt, ohne gesellschaftliche Dimension. Selbst patriarchale Muster, die der Film sichtbar macht – etwa in der Rolle von Haftbefehls Frau, die als „Alleinverantwortliche“ für Familie und Haushalt geschildert wird – bleiben unkommentiert. Es ist, als wolle der Film alles verstehen und zugleich nichts hinterfragen.
Schmerzverwertung
Über die Kunst, die Musik, die Sprache Haftbefehls erfährt man überraschend wenig. Seine künstlerische Innovation, seine lyrische Kraft, die Verbindungen zwischen Straße, Pop und Poesie – all das bleibt unterbelichtet. Stattdessen dominieren Bilder des Falls: der erschöpfte Körper, die kaputte Stimme, das Blut im Waschbecken. Wo man die Musik als Ausdruck sozialer Realität hätte lesen können, wird sie zur bloßen Illustration des Leidens.
So entsteht ein Werk, das zwar emotional packend ist, aber inhaltlich leerläuft. Die Doku verwechselt Nähe mit Wahrheit und Authentizität mit Schmerz. Je mehr Haftbefehl leidet, desto „echter“ erscheint er – und genau darin liegt das Problem. Denn das Leiden wird hier ökonomisch verwertet: als Dramaturgie, als Markenwert, als Mittel der Selbstvermarktung. Das Publikum wird zum Komplizen dieses Systems, das Schmerz als Spektakel konsumiert.
Inszeniertes Leiden
In dieser Hinsicht ist Babo – Haftbefehlstory ein Symptomfilm. Er zeigt nicht nur den Künstler im Teufelskreis von Erfolg und Selbstzerstörung, sondern auch die Kulturindustrie, die genau von dieser Spannung lebt. Der Absturz wird Teil der Inszenierung, das Private zum Content, der Schmerz zum Kapital. Der Film behauptet, schonungslos zu sein – tatsächlich aber reproduziert er das System, das er zeigt: eine Aufmerksamkeitsökonomie, in der Leiden als Authentizität gilt und Kunst zur Nebensache wird.

Was bleibt, ist ein widersprüchliches Bild: Haftbefehl als Opfer und Täter zugleich, als Produkt einer Industrie, die ihn zugleich feiert und verschleißt. Die Doku ist sehenswert, weil sie unfreiwillig mehr über unsere mediale Gegenwart erzählt als ihr lieb sein kann. Aber als künstlerische oder analytische Arbeit scheitert sie – an ihrem eigenen Anspruch, Wahrheit zeigen zu wollen, ohne zu reflektieren, wem diese Wahrheit dient.
Beitragsbild: Maor Attias auf pexels


Ich habe die Doku (noch) nicht gesehen. Schon der Hype darum hat mich zögern lassen. Vielleicht war es genau die Dissonanz, die dieser Beitrag schildert, die mich unbewusst davon abgehalten hat. Aber jetzt möchte ich es wirklich sehen. Gut vorbereitet durch diese kompakte, sprachlich fein aufbereitete Kritik. Danke dafür.