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Jung, weiblich, politisch – wie tickt Selin Akin, die jüngste Stadträtin Ludwigsburgs?

Während andere in ihrem Alter gerade erst mit dem Studium beginnen, jongliert die Tübinger Studentin zwischen Vorlesungen, Ausschusssitzungen und ehrenamtlichem Engagement. Sie ist die jüngste Gemeinderätin in Ludwigsburg, die einzige unter 50 in ihrer Fraktion – und eine der wenigen Frauen. 

Auch heute noch ist es in der Kommunalpolitik kein Vorteil, jung und dazu noch eine Frau zu sein. Ihr Alter wird gegen ihre Kompetenz ausgespielt, ihre mögliche spätere Mutterschaft als Argument gegen eine langfristige Karriere. Dabei ist Selin erst 20, steckt mitten im Studium und brennt für eines: Politik. Politisches Engagement und Selbstbestimmung bedeuten für sie Freiheit – und Freiheit ist für Selin gleichbedeutend mit Demokratie.  

Was treibt sie an? Wie geht sie mit Widerständen um? Und warum braucht es mehr junge Frauen in der Politik? Ein Porträt einer Kämpferin, die nicht zu stoppen ist.

Selins Weg in die Politik

Selin Akin kommt mir schnellen Schrittes entgegen, ein Lächeln auf den Lippen, die Unitasche noch auf dem Rücken. Wir stehen vor der Villa BarRock, direkt am Bahngleis im Herzen Ludwigsburgs, wo heute das Projekt Connect gefeiert wird. Nach einem langen Unitag in der Prüfungsphase und mehreren Stunden Zugfahrt wirkt sie immer noch voller Energie und auch stolz, als ich sie auf das Projekt Connect anspreche. Ohne ihren Einsatz im Gemeinderat wäre der Platz hier Geschichte, ein weiteres Opfer der klammen Gemeindekassen. Stattdessen ist die alte Jugendstilvilla heute ein Symbol dafür, dass politisches Engagement etwas bewegen kann – auch wenn man erst 20 Jahre alt ist.

Kaum haben wir an einem alten Caféhaustisch zwischen bunt zusammengewürfelten Stühlen und durchgesessenen Sofas Platz genommen, beginnt Selin zu erzählen. Hier, zwischen Graffiti und Aufklebern, ist sie ganz in ihrem Element. Sie kennt fast jeden im Projekt Connect, schüttelt Hände, tauscht kurze Worte aus, lacht herzlich. Kein Wunder – sie ist umgänglich, kontaktfreudig, offen. Das liegt vielleicht auch an ihrer Kindheit: Mit ihrer Familie war sie bereits früh in Vereinen aktiv. Auch im Laden ihrer Familie hat sie gelernt, mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu treten. Politik war für sie nie eine abstrakte Idee, sondern immer etwas, das das Leben des Einzelnen direkt beeinflusst.  

„Wir müssen den Jugendlichen zeigen, dass ihr Engagement etwas bewirken kann.“

Selin Akin

Ihr erstes politisches Engagement begann mit einem Brief. Einem wichtigen Brief, wie sie sagt. Er lag eines Tages in ihrem Briefkasten – eine Einladung zur Wahl des Jugendgemeinderats. „Ich wusste sofort: Das will ich machen“, sagt sie und lehnt sich zurück. Damals war sie 16, politisch interessiert, aber noch nicht aktiv. Doch der Gedanke, ihre Stadt mitgestalten zu können, ließ sie nicht mehr los. Dass ihre Mutter selbst für den Gemeinderat kandidierte, macht ihr Engagement umso selbstverständlicher. Politik liegt ihr im Blut. 

Politische Beteiligung war und ist für Selin mehr als trockene Sitzungen. Orte wie das Connect haben ihre eigene Jugend geprägt – die Konzerte, die kulturellen Angebote, die Möglichkeit, einfach da zu sein, ohne Konsumzwang. Ihre Position ist klar: Diese Räume müssen bleiben, sie müssen wachsen, damit auch die nächsten Generationen davon profitieren. „Das tolle am Café Connect ist einfach, dass es für alle offen ist und das ist“, sagt sie und schwärmt vom fairen Preissystem: Jeder zahlt, was er kann, so kann sich jeder ein Getränk in geselliger Runde leisten. Pizza gibt es für alle umsonst, auch vegane Varianten stehen zur Auswahl.

Während wir reden, kommen immer wieder Menschen vorbei, setzen sich kurz zu uns, wechseln ein paar Worte. Junge Familien, Jugendliche, Ehrenamtliche, Mitglieder des Jugendgemeinderats – hier treffen sich alle, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Selin ist hier keine Politikerin in einer abgehobenen Blase, kein Fremdkörper in einer Welt, die sie nur aus Akten kennt. Sie gehört dazu. Sie redet nicht nur über den politischen Dialog – sie lebt ihn.

Herausforderungen als junge Frau in der Politik

Selin jongliert zwei Vollzeitjobs gleichzeitig: Tagsüber sitzt sie in den Hörsälen der Universität Tübingen, studiert Politikwissenschaft und Allgemeine Rhetorik, schreibt Hausarbeiten, bereitet sich auf Prüfungen vor. Abends geht es in den Gemeinderat, in Ausschüsse, zu Bürgergesprächen. Was noch wichtiger ist: das macht sie freiwillig – und aus Überzeugung.  

Ihr junges Alter wird in politischen Debatten jedoch oft gegen sie verwendet. „Wenn ich mich zu bestimmten Themen äußere, heißt es schnell: Ich bin noch zu jung, mir fehlt die Erfahrung.“ Dabei ist ihre Meinung nicht weniger fundiert als die ihrer älteren Kollegen. Sie ist hervorragend vorbereitet, kennt die Fakten – doch statt über ihre Argumente zu sprechen, wird ihre Lebenserfahrung in Frage gestellt. Eine Taktik, die junge Menschen, vor allem junge Frauen, in der Politik immer wieder erleben. 

 

„Die Entscheidungen, die heute getroffen werden, bestimmen unsere Zukunft – und zwar am längsten und intensivsten für uns junge Menschen.“

Selin Akin

Noch absurder findet sie die Diskussion um ihre mögliche Mutterschaft. „Ich bin 20 Jahre alt, mitten im Studium – und trotzdem wird spekuliert, ob ich nicht bald Kinder bekomme und dann für die Politik ausfalle“, erzählt sie kopfschüttelnd. Ihre männlichen Kollegen müssen sich solche Fragen nicht anhören. Dabei geht es nicht um ihre tatsächlichen Pläne, sondern um eine implizite Annahme, die Frauen auf ihre Rolle als werdende Mütter reduziert – und damit als weniger verlässliche politische Akteurin.

In ihrer Fraktion ist sie nicht nur die Jüngste, sondern auch eine der wenigen (jungen) Frauen. Das spürt sie, mal subtil, mal direkt. Doch statt sich einschüchtern zu lassen, nutzt sie ihre Position. Sie bringt eine Perspektive ein, die oft fehlt: die der Jungen, der Frauen, derer, die politische Entscheidungen aus einer anderen Lebenswirklichkeit heraus betrachten.

„Die Entscheidungen, die heute getroffen werden, bestimmen unsere Zukunft – und zwar am längsten und intensivsten für uns junge Menschen“, ist Selin überzeugt. Gerade deshalb sei es so wichtig, dass ihre Generation stärker in politische Prozesse eingebunden werde. Es gehe nicht nur darum, Sitze in Parlamenten zu vergeben, sondern junge Menschen ernst zu nehmen, sie zu motivieren, sich einzubringen und ihnen eine echte Stimme zu geben. „Wir müssen den Jugendlichen zeigen, dass ihr Engagement etwas bewirken kann“. Politik müsse greifbarer werden – nicht nur für die, die sich ohnehin dafür interessieren, sondern für alle.

Dass sie sich trotz der Doppelbelastung nicht aus der Balance bringen lässt, liegt auch an ihrer Bodenständigkeit. Das Connect und andere Jugendtreffs sind für sie keine abstrakten Förderprojekte, sondern Orte, die ihre Jugend geprägt haben – Treffpunkte, an denen Gemeinschaft entsteht. Ihr Engagement entspringt nicht einer distanzierten politischen Logik, sondern echter Überzeugung und gelebter Erfahrung. Genau das macht sie so glaubwürdig – und genau deshalb lässt sie sich auch bei Gegenwind nicht entmutigen.

Selin Akin in der Ludwigsburger Innenstadt.
Selins Smartphone ist nie lange ruhig. Bild: María Vallecillos Soldado

Politik als gelebte Demokratie 

Selin macht Politik, weil sie etwas bewegen will – für die Gen-Z, für die Zukunft, für eine offene und gerechte Gesellschaft. Ihr politisches Engagement ist kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung, geprägt von ihrer Familie und ihren eigenen Erfahrungen. Ihre Mutter ist selbst politisch aktiv. Doch es ist mehr als eine Familientradition: Politik bedeutet für sie, Demokratie aktiv zu leben – sich einzumischen, mitzugestalten, Missstände nicht nur zu benennen, sondern an Lösungen zu arbeiten. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit, sie braucht Beteiligung. Und genau dafür setzt sich Selin ein.

Wenn sie spricht, dann gewählt, klar und überzeugend. Sie weiß, wie sie sich vor der Kamera präsentieren muss, tritt souverän auf – und bleibt dabei authentisch. Ihr Auftreten ist kein bloßes Kalkül, sondern Ausdruck ihrer Leidenschaft. Sie liebt die politische Debatte, das Ringen um Argumente, das Finden von Kompromissen. Doch eines stört sie: „Warum wird bei Frauen in der Politik immer noch so viel Wert auf ihr Aussehen gelegt?“, fragt sie (Anmerkung der Autorin: Genau aus diesem Grund wird in diesem Porträt bewusst auf eine Beschreibung ihres Kleidungsstils oder ihres Aussehens verzichtet).  

Selin wünscht sich eine Welt, in der es keine Rolle mehr spielt, wie sich eine Frau kleidet, um ernst genommen zu werden. Eine Welt, in der Politikerinnen nicht mehr härter beurteilt werden als ihre männlichen Kollegen. Eine Welt, die bunt bleibt. Dafür muss sich die Politik ändern. Selin will mehr junge Menschen in politischen Ämtern sehen, mehr Frauen in Entscheidungsgremien, mehr Vielfalt in den Parlamenten. Ihr Ziel? Teilhabe ermöglichen und politische Prozesse zugänglicher machen. Denn Politik ist nicht nur etwas für eine elitäre Minderheit – sie gehört allen.

Politik ist kein Selbstzweck 

Selin Akin beweist, dass politisches Engagement keine Frage des Alters ist – sondern der Einstellung. Sie zeigt, dass junge Menschen Politik nicht nur beobachten, sondern aktiv mitgestalten können. Mit Leidenschaft, Ausdauer und klaren Überzeugungen kämpft sie für eine offene, gerechte und demokratische Zukunft. Eine Zukunft, in der alle mitbestimmen können – unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft. 

Politik ist für sie kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug, um die Welt ein Stück besser zu machen. Und sie macht deutlich: Demokratie lebt vom Mitmachen. Wer mitreden will, muss sich einmischen. Wer Veränderungen will, muss sie anstoßen. Genau das macht Selin – Tag für Tag. 

Beitragsbild: María Vallecillos Soldado

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