Die Darstellung des blutsaugenden Vampirs hat man erstmals 1922 in „Nosferatu – Symphonie des Grauens“ im Kino bestaunen können. Über 100 Jahre später wird der Film in Tübingen an einem wahrlich außergewöhnlichen Ort wiederaufgeführt.
Die Tübinger Stiftskirche ist in eine gespenstische Atmosphäre gehüllt. Vor dem Altar flackert der unheimliche Schein von Wachskerzen. Die Kirchenbänke sind vollbesetzt, Zuschauende aller Altersgruppen betrachten gebannt die aufgespannte Leinwand vor ihnen. Bevor die dunklen Schatten des Stummfilmklassikers Nosferatu über die Leinwand huschen, werden ein Bibelvers und das „Vater Unser” angestimmt, um die Symbiose von Kino und Glauben zu vervollständigen.
Ein Schauermärchen in 5 Akten
Nosferatu erzählt die Geschichte des Maklers Hutter aus Wisborg, der sein Nachbarhaus an einen Grafen Orlok aus Transsilvanien vermieten soll. Um die Papiere zu unterzeichnen, reist er auf sein Schloss und lernt schon bald dessen Eigenarten kennen. So muss er feststellen, dass sein Gastgeber tagsüber in einem Sarg schläft und ein besonderes Fabel für Blut und Hälse zu haben scheint. Durch einen Zufall erfährt Orlok von Hutters Frau Ellen und unterschreibt sofort den Kaufvertrag. Unterdessen fällt Ellen in einen tranceartigen Zustand. Der Vampir Orlok verfrachtet sich in seinem Sarg auf ein Schiff mit dem Ziel sich Ellen zu nähern, Hutter flieht bei diesem Anblick aus dem Schloss. In Wisborg kommt das Geisterschiff ohne Überlebende an, da Orlok zwischenzeitig die ganze Besatzung ausgesaugt hat. Hutter muss erkennen, dass Graf Orlok Ellen sehnsuchtsvoll beobachtet. Sie schickt Hutter weg, um einen Arzt zu holen und gibt sich darauf dem Vampir hin, damit dieser ihr Blut trinken kann. Doch Orlok hat die Zeit vergessen und zerfällt unter dem einfallenden Sonnenlicht zu Staub.
Nosferatu auf der Leinwand, Vampire im Kopf
Die Geschichte wirkt einerseits vertraut, weil sie mittlerweile unzählige Male neu adaptiert wurde, beispielsweise in den Dracula-Verfilmungen von Bela Lugosi (1931), Christopher Lees Darstellung aus dem Jahr 1958, Francis Ford Coppolas Dracula aus 1992 oder aber auch Werner Herzogs Nosferatu – Phantom der Nacht (1979). Andererseits schöpfte Bram Stoker mit seinem Roman aus dem Jahr 1897 den Vampir, wie die Welt ihn heute kennt. Doch fast wäre diese Schöpfung durch einen Urheberrechtsstreit zu Nichte gemacht worden, denn Stokers Witwe veranlasste die Vernichtung aller unautorisierten Verfilmungen. Nosferatu überlebte den Spuk jedoch und wurde für das heutige Publikum restauriert. Herausgekommen ist ein Meilenstein des Gruselkinos, welcher den Mythos des unsterblichen Blutsaugers in den Köpfen der Menschen manifestiert hat.
Dracula als Graf Orlok mit langen Fingern, schattenhafter Gestalt und eingefallenen, bleichen Gesichtszügen sind stilprägend. Die ikonischen Szenen und das Bühnenbild dienten als Inspiration für viele Ableger. Auch die in Gelb- und Türkistöne eingefärbten Bilder verorten die Emotionen der Zuschauenden zwischen geborgener Heimat, mysteriösem Fremden und dem bedrohlichen Schrecken, des unsterblichen Todes. Nosferatu handelt von Verendung, Auferstehung, Sehnsucht und dem entfesselten Bösen, das über die heile Welt hereinbricht. Und damit hat der Stoff nicht durch Zufall deutliche Parallelen zum Christentum.
Wie passen Vampire zum Christentum?
Die wiederholten technischen Probleme während der Vorführung und die für heutige Sehverhältnisse untypischen, teils unlesbaren Schrifteinblendungen der Stummfilmzeit konnten von den imposanten Orgeltönen unter Leitung von Frank Oidtmann ausgeglichen werden. Sie untermalten die Dramaturgie der einzelnen Szenen durch ruhige, melodische, aber auch bedrohliche und archaische Klänge. Professorin Inge Kirsner verband die ungewöhnliche Kombination von Grusel und Kirche in ihrem kurzen Impulsvortrag. Sowohl Jesus, als auch die Vampire kehren von den Toten zurück und bei beiden spiele Blut eine entscheidende Rolle. Sie überwinden den Tod durch die Auferstehung. Doch sie würden sich auch grundlegend unterscheiden, denn wo Jesus Leben gebe, nehme der Vampir dieses vorübergehend und treibe mit ewigem Dasein sein Unwesen.
Der ungewöhnliche, aber durchaus atmosphärische Aufführort des Gruselfilms Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens lässt das mögliche Zusammenspiel von Kino und Glauben im wahrsten Sinne des Wortes wieder auferstehen.
Beitragsbild: Theo Andes