Nora Bossong spricht auf der diesjährigen Tübinger Poetik-Dozentur über die Gratwanderung, die Literatur zwischen Wirklichkeit und Phantasie einnimmt. Doch Literatur leistet viel mehr als das, vor allem in diesen Zeiten.
Die Reihen des Audimax, des größten Hörsaals der Universität, füllen sich allmählich. Hier und da vernimmt man ungeduldiges Gemurmel. Es ist der letzte Impuls der 37. Tübinger Poetik-Dozentur, Rednerin Nora Bossong betritt die Bühne. „Fakten und Fiktionen“, so lautet der Titel des Vortrag der preisgekrönten deutschen Schriftstellerin. Sie seien die Grundlagen der Literatur, doch die Grenzen würden immer weiter verschwimmen. Beim Stichwort „Erinnerung“ von geschichtlichen Ereignissen muss Literatur laut Bossong aber einen gewissen Wahrheitsanspruch erfüllen, um den Fakten gerecht zu werden.
„Nur Literatur zu lesen, macht uns noch nicht zu guten Menschen“
Nora Bossong, Schriftstellerin
Die vielen Facetten des Geschichtenschreibens
Mit einer scharfen Bemerkung über die Bibelunkenntnis Trumps schlägt sie das wohl meistpublizierteste Buch der Welt auf. Ihr neu aufgenommenes Theologiestudium ermöglicht ihr nicht nur die Interpretation der Passage, zudem schlägt sie den Bogen zu ihrem neuen Roman „Reichskanzlerplatz“. Der gemeinsame Nenner ist simpel: Es sei das Möglichkeitsspektrum der Literatur, so Bessong. Eine Stadtchronik kann sich in ihrem Beispiel ohne Umwege in ein Theaterstück über die 30er Jahre verwandeln. Dort wo Worte aufhören, beginne eine unglaubliche Freiheit, immer wieder etwas Neues zu schaffen.
Literatur am Zahn der Zeit
Literatur hole die Menschen in die Zeit der Kindheit zurück, in der die Welt noch ganz und gar nicht entzaubert war. Diese kindliche Vorstellungskraft gehe beim Erwachsenwerden verloren. Sie schaffe den Aufbruch oder auch die Flucht in die unbeschwerte Romantik. Es ginge beim Lesen darum, einen utopischen Ort zum Leben zu erwecken und Hoffnung zu finden oder wiederzufinden. Gerade in polarisierten Zeiten sei das besonders wichtig. Viele Menschen würden sich in der heutigen Zeit nach einer Gut-Böse-Dichotomie sehnen und sich mit der guten Seite identifizieren wollen, so Bossong. Wenn die Gesellschaft nur noch in Schwarz-Weiß denken würde, dann verliere man die Grauzonen aus den Augen. Und genau da komme die Literatur ins Spiel, denn mit ihrer poetischen Sprache könne man lernen, seine eigenen Überzeugungen zu überdenken und zu hinterfragen.
Literatur leistet einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft, sie kann beispielsweise verschiedene Sichtweisen darlegen und zwischen ihnen vermitteln: sei es als kritischer Leserbrief an eine Tageszeitung, einen Dichterwettstreit oder eine Kommentarspalte auf Social Media. Gerade in Zeiten, in denen Menschen in ihren Weltanschauungen immer weiter auseinanderzudriften scheinen, kann die Literatur in all ihren Formen einen Platz als vermittelnde Plattform einnehmen.
Beitragsbild: Janko Ferlič (Unsplash)