Kein Tag in Neapel wird so stark mit einem Musiker assoziiert wie der 9. Mai mit LIBERATO. Der Künstler hat es geschafft, der Stadt und der Sprache eine Identität zu verleihen, die gefüllt ist mit Emotionen. An seinem (in)offiziellen Feiertag tanzt aber nicht nur Italien, sondern auch Tübingen. Ein Bericht über einen anonymen Künstler und die identitätsstiftende Kraft seiner Musik für die Tübinger Internationals.
“Neunter Mai, du hast mich vergessen // man sah dich unterwegs mit einem anderen.” Mit diesen Zeilen schoss Liberato vor sieben Jahren aus dem Nichts in die Öffentlichkeit. Schlagartig hat er sich einen Namen gemacht und mittlerweile gilt der 9. Mai als quasi-offizieller Liberato-Tag. Wer er ist? Das weiß niemand. Seine Identität ist anonym, ein Geheimnis. Nur so viel ist klar: die Musik in Neapel prägt er wie vielleicht kein anderer.
Der neapolitanische Homer
Liberato stammt aus Neapel, eine Stadt, deren Wurzeln bis ins 7./8. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen. Als griechische Stadtgründung war sie Teil der sogennanten “Magna Graecia”, den Städtekolonien in Süditalien. Und genau in dieser Zeit lässt sich vielleicht auch das künstlerische Ebenbild des Neapolitaners finden: Homer, Dichter der beiden Groß-Epen Ilias und Odyssee.
Homer als Autor ist genau so wenig greifbar wie Liberato. Nicht einmal die Anzahl der Personen ist sicher: Es könnte sich genauso gut um eine Gruppe gehandelt haben, die als Kollektiv agierte. Doch wer auch immer „Homer“ war, er stand in einer langen dichterischen Tradition, die der sogenannten Rhapsoden. Das war eine Art Wander-Sänger, die ein großes Repertoire an verschiedenen mythischen Stoffen parat hatten und bei Feierlichkeiten auf Zuruf spontan vorsangen. Eine der Stoffsammlungen sind genau die Geschichten zum Trojanischen Krieg und der Heimfahrt des Odysseus gewesen, die je nach Festgelage und Sänger unterschiedliche Variationen aufwiesen. Auf diese rein mündliche Tradition griff Homer zurück und konkretisierte sie schriftlich in seiner Version der Ilias und Odyssee. Die Epen stehen somit nicht im luftleeren Raum.
Ähnlich ist es bei Liberato. Seine Lieder stehen im Licht der reichen kulturellen Geschichte Neapels. Er hat es wie kein zweiter geschafft, die musikalische Tradition Neapels in die Gegenwart zu überführen und die neapolitanische Sprache fest in der Bevölkerung zu verankern. Alte Sprachformen treffen auf R&B-, Elektro-, und Hip-Hop- Elemente und erstrahlen in neuem Glanz. Liberato erzeugt seine ganz persönliche Version der Napolitanità, das aus dem Alltag, dem Stadtbild und der musikalischen Geschichte der ehemaligen griechischen Kolonie erwächst. Seine Lieder sind gefüllt mit Anspielungen an Volkslieder, Stadtteile und Motive der lokalen Kultur. Sein Werk – eine dichte Verkörperung neapolitanischer Identität. Das trägt er in die ganze Welt hinaus und macht Neapel und das Neapolitanische zum Referenzpunkt von Hochkultur.
Neapolitan 101 – Crashkurs
Aus Liberatos Sprache platzen die Emotionen aus allen Nähten raus. Es sind Lieder über die bittersüße Liebe, die die Fans bewegen. Einige Beispiele für den nächsten Neapel-Urlaub gefällig?
M’arrevuote ‘o core | Du hast mein Herz komplett auf den Kopf gestellt |
Tengo ‘o core ca’ nun può purtà pacienz’ | Ich habe ein Herz, das keine Geduld mehr ertragen kann |
m’he lassat’, m’he sfunnat’, m’he sciarmat’ | Eine Klimax, für die es im Deutschen eigentlich keine adäquate Übersetzung gibt, um den emotionalen Schmerz nach einer Trennung auszudrücken. Sinngemäß: komplett und vollkommen zerstört – nur eben noch herzzereißender. |
Die Übersetzung kann nur im Ansatz die Emotionen wiedergeben, die im Neapolitanischen zum Ausdruck kommen. Aber es ist genau diese Ambivalenz der Liebe, die seine Musik und seinen Stil ausmacht. Sein Symbol könnte nicht passender sein: die Rose. Ihre Blütezeit? Natürlich im Mai. Die Liebesbeziehungen ziehen sich dabei über mehrere Alben, die er stets am 9. Mai veröffentlicht. Und so warten die Fans wie bei einer Serie gespannt auf das nächste Projekt des Künstlers.
Gründungsmythos der Stadt: Die Sirene Parthenope
Durch die bittersüße Liebesthematik trifft er ganz den Geist der Stadt. Nach dem Gründungsmythos habe sich die Sirene Parthenope in den homerischen Helden Odysseus verliebt, als dieser auf seinen Irrfahrten vorbeifuhr. Durch Gesänge habe sie versucht, ihn zu sich zu locken. Doch der Versuch scheiterte, da Odysseus mit Wachs in den Ohren an den Schiffsmast gebunden war. Vor Verzweiflung wegen der unerwiderten Liebe stürzte sie sich ins Meer. Ihr Körper wurde an den Fuß des Vesuvs gespült, wo ein Kult um sie errichtet und eine Stadt gegründet wurde: Parthenope. Diese antike Siedlung wurde später neu aufgebaut und erhielt einen anderen Namen, den sie noch heute trägt: Neapolis (gr.: Neue Stadt).
Vom Golf von Neapel bis zum Neckar in Tübingen
Doch wie es scheint, erreichte die Sirene – der Liberato auch ein Lied gewidmet hat – nicht nur den Golf von Neapel. Irgendwie hat sie ihren Weg zum Neckar gefunden, denn auch in Tübingen sind mittlerweile kleine neapolitanische Siedlungen entstanden: Erasmus-Studierende und Wissenschaftler*innen legen ebenso hier ihren Anker an und tragen ein Stück Napolitanità mit sich.
Welche Rolle spielt die Musik Liberatos für die Neapolitaner*innen? Wir haben nachgefragt:
„Wir (d.h.: die neapolitanische Jugend) fühlen uns durch seine Musik und Sprache repräsentiert. Es sind Lieder, die über Liebe sprechen, nicht Hass.“ (Matteo – Erasmus Student). Gerade für die internationalen Studierenden aus Italien und insbesondere aus Neapel, nimmt Liberato mit seiner Kunst eine stark identifizierende Funktion ein.
Die Lieder sind mehr als nur bloße Melodien. Sie werden zum Begegnungsort mit der Heimat – auch wenn diese geographisch weit entfernt liegt. Der Griff zur Musikwiedergabe auf dem Handy gleicht dem Zuruf an die Rhapsoden: Binnen Sekunden eröffnet sich den Zuhörenden die ganz persönlich geprägte Welt des dichtenden Künstlers, in die sie eintauchen können. Und das ganz besonders am 9. Mai. Dabei ist es egal, welche Identität Liberato hat. In seiner Musik und der Aufbereitung neapolitanischer Kulturstränge findet sich jeder an einem bestimmten Punkt selbst wieder. Vielleicht ist genau das das wahre Geheimnis seiner Identität. Und um das Ganze noch weiter zu befeuern, hat Liberato soeben einen Film rausgebracht, der seine künstlerische Tätigkeit zusammenfasst: Il segreto di Liberato.
Die Buchten der Herzen
Wenn ihr aufmerksam durch die Stadt geht und eure Ohren spitzt, dann werdet ihr es hören: Sei es das leise Dröhnen aus den Kopfhörern von Studierenden in der Uni-Bib; das unscheinbare Summen einer vorbeispazierenden Person; das rhythmische Schnipsen beim Warten an der Bushaltestelle oder unüberhörbar aus den Lautsprecherboxen im Kuckuck – Liberatos Musik verschmilzt gerade mit der Klangkulisse Tübingens. Und so spülen seine Lieder ein Gefühl von Heimat in die Buchten der Herzen der internationalen Studierenden. Da kommt es gerade gelegen, dass am 09. Mai wieder ein neues Lied veröffentlich wurde: LUCIA (STAY WITH ME) – Spielfilm inklusive.
Beitragsfoto: Alexandros Mantzaridis
Zeichnung: Keti-Danai Mantzaridou