Ein Einblick in die Geschichte des Jugendworts des Jahres und den Einfluss der Internet-Kultur
Als Susanne Daubner, Moderatorin der Tagesschau, im August 2021 die Kandidaten für das “Jugendwort des Jahres” ankündigt, ist vielen das Konzept eines jährlich auserwählten Wortes, das den Geist der Jugend akkurat beschreiben soll, noch neu. Allerdings gibt es Diskussionen rund um das Jugendwort schon seit seiner ersten Bekanntmachung.
Am Anfang war das Wort
Wir schreiben das Jahr 2008. Das allererste Jugendwort lautet Gammelfleischparty und bezeichnet Ü-30-Partys. Es soll alle Kriterien erfüllt haben: Originalität, Verbreitungsgrad, sprachliche Kreativität und gesellschaftliche Relevanz. Das Ergebnis ist damals kontrovers. Sowohl Jugendliche als auch die Zielgruppe der Partys finden das Wort herablassend. “So eine Aussage von Jugendlichen finde ich schon wirklich unverschämt”, schreibt ein User im selben Jahr auf Talkteria, einem Internet-Forum. Das Jugendwort im Jahr darauf, hartzen, definiert laut Website des Verlags das “(sinnlose) Herumhängen”, wofür die Jury wegen ihrer Respektlosigkeit gegenüber Arbeitslosen kritisiert wird. Mittlerweile sind menschenverachtende Einreichungen nicht mehr zulässig.
Über die Jahre werden die Nominierungen zur Zielscheibe spöttischer Bemerkungen. “Dass der Verlag […] Langenscheidt sowas überhaupt veröffentlicht[,] ist [das] [P]einlichste von allen”, sagt ein User 2009 über hartzen auf buffed.de. Ist es noch eine gute Idee, Jugendwörter zu bestimmen, wenn ein beträchtlicher Teil der Jugendsprache abwertend ist?
Eigentlich gibt es ein größeres Problem: Viele der Jugendlichen identifizieren sich nicht mit den Wörtern. Dafür gibt es einige Gründe. Der Großteil der Jury besteht bis vor einigen Jahren nicht aus Jugendlichen, sondern Expert*innen älterer Generationen, die vorgeben, sich mit der Jugendsprache auseinandergesetzt zu haben. Zudem bildet der Verlag Neologismen und gibt sie als Jugendwörter aus. Der Gewinner des Jahres 2015, Smombie (“Smartphone-Zombie”), stellt sich später als Langenscheidts Erfindung heraus. Und nicht zuletzt werden beliebte Wörter von der Jury vernachlässigt, auch wenn sie nicht menschenverletzend sind. Einer Umfragestatistik aus 2017 zufolge sei das beliebteste Jugendwort belastend. 57 Prozent der Befragten kennen das Wort oder haben es zumindest schon gehört. Das Jugendwort des entsprechenden Jahres ist I bims, das nur 26 Prozent kennen oder gehört haben.
In Wirklichkeit wurde die Aktion nicht für die jungen Menschen selbst gegründet. Ursprünglich dient das Jugendwort des Jahres als Werbeaktion, um eine jährliche Buchreihe zu verkaufen: Hä?? Jugendsprache unplugged, ein Lexikon für Jugendwörter in fünf Sprachen, erscheint erstmals 2008. Die Serie wird 2013 von der erfolgreicheren 100 Prozent Jugendsprache abgelöst, die Wörter für das nächste Jahr beinhalten.
Im Jahr 2019 muss der Verlag kurzfristig den Schlussstrich ziehen. Grund dafür ist die Übernahme vom Pons-Verlag, der Teil der Klett-Gruppe ist. Der Deal kommt zu einem schlechten Zeitpunkt und die jährliche Ausgabe des Jugendwort-Lexikons kann nicht vollendet werden. Werbeaktionen werden gestrichen und die Wahlen fallen so ins Wasser.
Die wilde Entwicklung unter Klett
2020 kehrt Langenscheidt mit dem Jugendwort des Jahres zurück. Jeder kann teilnehmen, doch diesmal sind nur Stimmen derer zwischen zehn und zwanzig Jahren für die Auswertung relevant. Diese Veränderung erweist sich als ergiebig. Das Wort, das die Runden übersteht, ist lost, soll Verwirrung ausdrücken und ist eine sehr zutreffende Auswahl angesichts der Corona-Pandemie.
Das Jahr darauf findet der Verlag seinen Durchbruch. Am 20. August 2021 strahlt die Tagesschau eine Sendung aus, bei der die Reporterin Susanne Daubner die Nominierungen aufsagt, worauf sie viele amüsierte Kommentare bekommt: Der YouTube-Short “Jugendwort 2021?!” mit der Ankündigung hat 3 Mio. Aufrufe. “Einfach nur lustig[,] wie man die Wörter so neutral sagen kann”, kommentiert ein User.
Der Gewinner ist cringe, ein heute noch relevanter Ausdruck für Fremdschämen. Tagesschau kann sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und packt sie bei der Ansage am Schopf. Der folgende Short beschreibt es am besten:
In den folgenden Jahren bekommt Langenscheidt routiniert seine Aufmerksamkeit. Wo es vorher nur kurze Beiträge gibt, werden nun viele Artikel verfasst. Daubner kehrt seit 2021 jedes Jahr zurück, um die Kandidaten zu annoncieren. Als Resultat steigt und sinkt jedes Jahr die Google-Relevanz der Wörter enorm schnell, immer um den Tag der Ankündigung. I bims verblasst im Vergleich zu smash, das Jugendwort von 2022 mit 43 Prozent der Stimmen.
2023 setzt sich das Wort goofy mit 39 Prozent durch und der Begriff YOLO, Jugendwort 2012, schafft es in die Top-Kandidaten. Beiträge zu dem Thema, die vom offiziellen Instagram-Account des Verlags hochgeladen werden, bekommen mehr Likes als die anderen. Es gibt sogar Highlights in ihrem Account zu den letzten drei Jahren, die unter anderem ein Meme beinhalten, bei dem sich der Verlag auf Daubners Ankündigung freut.
Darf Langenscheidt so?
Wie konnte sich das Jugendwort des Jahres so entwickeln?
Das Internet dezentralisiert sich. Zuvor stehen ausschließlich große Content Creators im Zentrum. Nun steigt die Nachfrage auch nach kleineren Creators. Auch nimmt die Anzahl der Menschen online in Deutschland zu: Nach dem Statistischen Bundesamt nutzen Ende 2023 98 Prozent der Menschen zwischen 16 und 24 Jahren das Internet.
Das Jugendwort wird Beispiel dieser Statistik: Vor 2021 werden in sozialen Medien (etwa Instagram) nur einzeln Beiträge dazu geteilt. Diese kommen von verifizierten Accounts, etwa deutschen Influencer*innen, und erhalten mehr Likes als Langenscheidt. Später findet man mehr Posts, die nicht mit dem Hashtag #jugendwortdesjahres oder seinen Variationen versehen sind — das Jugendwort wird unabhängig von seinen Wurzeln genutzt. Viele Beiträge lehnen sich an die Tagesschau an.
Vor 2020 werden Versuche des Verlags, bei den Jugendlichen relevant zu bleiben, mit Verwirrung erwidert. Heutzutage passt die Absurdität eines jährlichen Jugendworts sowie einer erwachsenen Frau, die diese Wörter aus höflicher Distanz aufsagt, zum surrealen Humor der Generation Z. Diese Kohorte ist bei den gültigen Stimmen am meisten repräsentiert.
So findet der Verlag momentan Erfolg, doch sollte er das Tempo nicht beibehalten, kann er mit einem erneuten Verlust der Zielgruppe rechnen. Der Werdegang ist nicht revolutionär, doch das Jugendwort des Jahres ist nie relevanter gewesen. Ohne die Vernetzung der Jugend wäre es nicht so groß geworden und in einer Welt ohne das Internet wäre es nicht so deutschlandweit verbreitet wie wir es heute kennen.
Letztendlich ist die Sprache ein Trend; diese Aktion ist keine Ausnahme. Aber noch kann man dieses Jahr darüber lachen. Man kann sich eben einen Witz aus allem basteln.
“jetzt kann ich in frieden sterben. mein wunsch, dass eine erwachsene frau “sheesh” in den nachrichten sagt, ist endlich erfüllt worden”
User auf YouTube, 2021
Übrigens wurde 100 Prozent Jugendsprache abgesetzt. Die letzte (und in vielen Buchhandlungen die einzig verkaufte) Ausgabe erscheint 2020. Sie ist bis heute der Bestseller der Reihe.
Beitragsbild: Pixabay