Videospiele haben als Medium zum Zeitvertreib nach wie vor noch einen schlechten Ruf. Das gilt insbesondere in studentischen und akademischen Kreisen. Von Videospielen wird man nur dümmer, so der Vorwurf. Dabei gibt es längst eine ganze Reihe von Beispielen dafür, wie Videospiele komplexe Sachverhalte veranschaulichen können, sodass man beim Spielen eine Menge lernen kann – auch für das eigene Studium.
Der häufige und intensive Konsum von Medien ist ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags. So schätz etwa eine Forsa-Umfrage von 2021 den durchschnittlichen Medienkonsum in Deutschland auf zehn Stunden pro Person und Tag (siehe Grafik 1). Immerhin 45 Minuten davon verbringt demnach ein durchschnittlicher Konsument mit dem Spielen von Videospielen. Aber obwohl Zocken damit eine weit verbreitete Tätigkeit ist – nach Schätzungen des Verband der Deutschen Games-Branche lassen sich bis zu 59 Prozent der Bevölkerung in Deutschland als Gamer*Innen bezeichnen – ist es in vielen Kreisen nach wie vor verpönt. Zu Zocken gilt als Zeitvertreib für Kinder und Jugendliche – und das obwohl laut jüngstem Umfragen ein Großteil der Videospieler*Innen mittleren und höheren Alters ist (siehe Grafik 2). Ein weiteres Vorurteil besagt, dass Videospiele als Medium nur unterhalten, nicht aber informieren, können. Gerade als Student*in, als der*die man ja eigentlich nahezu immer irgendetwas lernen sollte, scheint das ein starkes Argument gegen das Spielen von Videospielen.
Videospiele sind aber nur ein Medium wie jedes andere, mit den man wie bei allen anderen Medien auch alle möglichen Inhalte vermitteln kann. Die Kupferblau hat daher einen Guide zusammengestellt, von Videospielen die nicht nur Spaß machen, sondern die einem auch dabei helfen können entspannt etwas für das eigene Studium dazuzulernen.
1. Politikwissenschaft: Suzerain
Manchen Spielen gelingt es die Realität derart gut zu imitieren, dass sie sich beim Spielen eher schon wie eine Simulation anfühlen. Die Graphic Novel des Berliner Entwicklungsstudios Torpor Games ist so ein Spiel. Darin schlüpfen wir in die Rolle von Anton Rayne, dem frischgewählten Präsidenten der fiktiven Republik Sordland. Als Präsident müssen wir uns einer Reihe von Herausforderungen stellen, etwa einer schweren Wirtschaftskrise, die das Land erfasst hat. Die Probleme und möglichen Lösungswege, für die wir uns als Spieler entscheiden müssen, sind dabei derart komplex und realistisch gehalten, dass man als Politikstudent gar nicht anders kann, als beim Spielen ständig Parallelen zu ähnlichen Problemen aus der Politik und Politikwissenschaft zu ziehen.
So ist etwa die Republik, die wir regieren dürfen, alles andere als eine Vorzeigedemokratie: Die Partei des Präsidenten verfügt nur dank hoher Prozenthürden bei Wahlen über eine absolute Mehrheit im Parlament. Eines der Hauptziele unserer Kampagne besteht daher in der Verabschiedung einer Verfassungsreform. Dabei sind wir jedoch gezwungen, uns mit schwierigen Detailfragen auseinanderzusetzen: Senken wir die Prozenthürden zu stark ab oder schaffen sie gar komplett ab, drohen bei der nächsten Wahl extremistische Parteien ins Parlament gewählt zu werden.
Auch veranschaulicht das Spiel hervorragend, dass Politik eben kein rationaler Prozess ist, dass politische Entscheidungen nicht nur von sachlichen, sondern auch von politischen Zwängen und Abwägungen beeinflusst werden. So entscheide ich mich in meinem ersten Spieldurchlauf für eine liberale Ausrichtung in der Wirtschaftspolitik. Doch bald schon stoße ich dabei auf Widerstand des sozialistisch orientierten Teils meiner Partei. Dieser droht mir ihre Unterstützung für die geplante Verfassungsänderung zu entziehen, wenn ich weiter Staatsunternehmen privatisiere. Ich sehe mich also gezwungen, es mit den Privatisierungen vorerst bleibenzulassen, auch wenn ich die Einnahmen eigentlich schon eingeplant habe und dringend benötige. Am Ende gelingt es mir so zwar, die gewünschte Reform zu verabschieden, allerdings zu dem Preis, dass ohne die Mehreinnahmen ziemlich bald meine Staatsfinanzen außer Kontrolle geraten. Tja, wie heißt nochmal so schön: „You can’t have your cake and eat it.“ Das gilt wohl in keinem Lebensbereich so sehr, wie in der Politik und Suzerain veranschaulicht das hervorragend.
Auch im Bereich der internationalen Beziehungen eignet sich das Spiel hervorragend, um gängige Theorien und Forschungserkenntnisse zu veranschaulichen. So besteht etwa ein weiteres Problem unserer Präsidentschaft in den Expansionsbestrebungen eines uns wirtschaftlich und militärisch hoch überlegenen Nachbarstaates. Wir haben verschiedene Möglichkeiten damit umzugehen, etwa in dem wir versuchen uns mit anderen Staaten zu verbünden, die sich ebenfalls bedroht fühlen. Als Spielstrategie ist dies gleichzeitig eine schöne Veranschaulichung mancher Theorien in den internationalen Beziehungen, die besagen, dass kleinere und mittlere Staaten übermächtigen Staaten meist begegnen, indem sie sich zusammenschließen und so das Machtungleichgewicht ausgleichen.
Das Spiel ist jedoch offen gegenüber unterschiedlichsten Weltanschauungen. So ist es auch möglich, als überzeugter Pazifist zu spielen, den Verteidigungshaushalt trotz drohender Invasion zusammenzustreichen und diese dann mithilfe der internationalen Staatengemeinschaft zu verhindern. Das kann zwar klappen, aber wenn es schiefgeht, dann so richtig und wir werden als Staat vernichtet. Womöglich würde so Manchem durch das Spiel klar werden, warum der Slogan „Frieden schaffe ohne Waffen“, in Ländern wie Polen oder den baltischen Staaten, die im Gegensatz zu Deutschland auch in der Realität an solch einen Nachbarn grenzen, auf weit weniger Unterstützung stoßen.
2. Medienwissenschaft: Life is Strange
Life ist Strange gilt manchen als ein Musterbeispiel dafür, dass Videospiele anderen Medien in nichts nachstehen, wenn es darum geht, packende und tiefgründige Geschichten zu erzählen. Aber auch medienwissenschaftlich Interessierten hat das Spiel einiges zu bieten. In Life is Strange spielen wir als Max Caufield, eine begabte Fotografin und Studentin an der Kunstakademie Blackwell Academy in Oregon.
Gleich in der Einstiegszene finden wir uns in einem Seminarraum wieder, wo uns der Dozent Jefferson eine Lektion über die Entstehung des Selbstporträts erteilt. Kurz darauf wird uns auch schon erste die Frage gestellt: „can you please tell us the name of the process that gave birth to the first self-portraits?“. Da spielt man noch keine zehn Minuten und fühlt sich auf einmal wie in einer Prüfungssituation. Aber keine Angst, die unsympathische Streberin Victoria hilft uns aus der Klemme und beantwortet die Frage an unserer Stelle.
Life is Strange ist jedoch kein Quizspiel und Abschnitte, in denen derart fachspezifisches Faktenwissen vorkommen, sind auch eher die Ausnahme als die Regel. Allerdings laden nicht nur der Inhalt, sondern auch die Form des Spiels dazu ein, über die Wirkung und Funktionsweise von Medien nachzudenken. Denn Life is Strange ist eigentlich ein Videospiel, das so konzipiert ist wie eine Serie und damit in gewisser Hinsicht ein medialer Hybrid irgendwo zwischen beiden. Die Handlung ist entsprechend in mehrere Episoden, ähnlich wie die Folgen einer Serienstaffel unterteilt.
Ein zentrales Motiv von Life is Strange ist dabei die Frage, wie sehr unsere Wahrnehmung der Dinge von der Perspektive und dem Kontext abhängen, aus denen heraus wir sie betrachten und damit verbunden, ob Medien mehr ein Abbild oder Zerrbild der Realität sind. So wirft unser Dozent Jefferson zu Beginn auch die Frage in den Raum, wie die amerikanische Fotografin Diane Arbus, dafür bekannt, in ihrem Werk vor allem das Leid im Leben der von ihr fotografierten Menschen darzustellen, die Realität auch anders hätte darstellen können: „I could frame any of you in a dark corner and capture you in a moment of desperation and any one of you could do that to me. […] What if Arbus choose to capture people at the height of their beauty and innocence? She had a brilliant eye, so she could have taken another approach.“[1] Ohne zu viel verraten zu wollen, wird dieser Satz in einer späteren Phase des Spiels noch von großer Bedeutung sein.
Immer wieder stellen wir dabei im Spielverlauf fest, dass unsere anfängliche Meinung über die Figuren von Life is Strange sehr stark von der Perspektive abhängig ist, aus der heraus sie uns vorgestellt werden. Entsprechend ist auch eine der wichtigsten Lektionen, die wir in Life is Strange lernen, dass Dinge oft nicht so sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, im Spiel so wie auch im echten Leben.
3. Geschichtswissenschaft: Kingdom Come Deliverance
Zu kaum einen anderen Thema gibt es wohl derart viele informative Spiele wie im Bereich Geschichte. Zu nennen wären hier etwa die Assassins Creed Reihe, in welcher eine fiktive Handlung unter Einbezug historischer Schauplätze und Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten Epochen erzählt wird. Gerade im Genre der Strategiespiele gibt es eine unübersichtlich hohe Anzahl von Spielen, bei denen man in die Rolle historischer Staaten schlüpft und so ganz nebenbei einiges über deren Kultur, Politik und vor allem Militär lernt.
Das Role-Play-Game Kingdom Come Delieverance des tschechischen Studios Warhorse Games zeichnet sich im Vergleich dazu dadurch aus, dass es ihm wie wohl kaum einen anderem Historienspiel gelingt uns nicht nur zu vermitteln, wie das Leben in einer anderen historischen Epoche war, sondern wie es sich womöglich auch angefühlt hat.
Angesiedelt im Jahr 1403 im Königreich Böhmen erzählt die Handlung von Kingdome Come Deliverance die Geschichte des Schmiedesohns Heinrich, dessen Heimatort von einer Armee des ungarischen Königs Sigismund zerstört wird. Als Mitglied der Garnison eines lokalen Fürsten werden wir anschließend Machtkämpfe zwischen den Unterstützern des Königs von Böhmen, Wenzel IV. und den Unterstützern Sigismunds hineingezogen. Kingdome Come Deliverance hebt sich dadurch ab, dass es den Spielern schonungslos mit allerlei Einschränkungen konfrontiert, denen man auch als einfacher Handwerker zu Beginn des 15. Jahrhundert real ausgesetzt war.
So macht Kingdome Come Deliverance real erfahrbar, dass auf dem platten Land im Europa des Hochmittelalters noch weitestgehend anarchische Zustände herrschten. Dies bekommen wir etwa auf unseren Reisen zwischen den Ortschaften der Spielwelt deutlich spüren, bei denen wir immer wieder die Erfahrung machen müssen, dass uns hinter jeder Wegbiegung umherziehende Räuberbanden auflauern könnten. Um uns gegen diese effektiv zur Wehr setzen, brauchen wir Waffen und Rüstungen. Aber auch hier schränkt uns das Spiel insofern ein, als dass wir schnell feststellen, dass wir uns als einfacher Schmiedegeselle und Waffenknecht die Kettenhemden und Plattenrüstungen, welche im Spätmittelalter kennzeichnend für die Ausrüstung von Rittern waren, gar nicht leisten können, zumindest nicht zu Beginn des Spiels.
Unser Charakter kann, wie die meisten Menschen im Mittelalter, anfangs auch nicht Lesen. Was bedeutet, dass wir erst einen Schreiber finden und ihn bezahlen müssen, damit er es uns beibringt, wenn wir all die Bücher, die wir in der Spielwelt finden können, auch lesen wollen.
Selbst kleinste Details, wie der Umstand, wann sich unser Charakter das letzte Mal gewaschen hat oder wie teuer die Kleidung ist, die er trägt, können den Spielverlauf entscheidend beeinflussen. Davon und dem Umstand, welchen Stand wir und unser Gegenüber im mittelalterlichen Ständewesen hat, kann etwa abhängen, ob uns ein Charakter etwa eine wichtige Auskunft gibt oder verweigert. Einen einfachen Köhler wird unsere verschmutzte und zerschlissen Kleidung wahrscheinlich weniger stören, den bischöflichen Inquisitor dagegen wahrscheinlich schon.
Das Schöne an Kingdom Come Deliverance ist dabei, dass wir jederzeit selbst entscheiden, wie tief wir uns in die historischen Details der Haupt- und Nebenhandlungen einarbeiten wollen. Wer will kann in der spieleigenen Datenbank sogar noch zusätzliche Informationen zu den Handlungsorten und Personen erfahren. Man kann es aber auch sein lassen und einfach nur das Spiel genießen.
Videospielen: Mehr als nur Spaß
Natürlich kann keines dieser Spiele den Besuch von Lehrveranstaltung oder die Lektüre von Fachliteratur ersetzen. Aber man kann ja schließlich nicht den ganzen Tag lernen. Gerade für Studierende, die sich oft unter Druck setzen, dass sie eigentlich rund um die Uhr lernen müssten, können Videospiele mit Bezug zum eigenen Studienfach daher eine Möglichkeit sein, auch mal Auszuspannen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Wir können uns sowieso nicht ständig aufs Lernen konzentrieren und ganz unabhängig davon, darf man manchmal auch einfach nur Spaß haben.
Grafiken: Thomas Kleiser
Screenshots: Asobo Studio, Square Enix, Warhorse Studios