Ein Stich in den Finger, drei Tropfen Blut auf einem Teststreifen – so schnell ist heutzutage ein HIV-Test gemacht. Auch andere sexuell übertragbare Erkrankungen wie Tripper oder Hepatitis lassen sich ähnlich einfach erkennen. Unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder gesellschaftlichem Status – Geschlechts-krankheiten sind Thema – auch für Studierende. In der Aidshilfe Tübingen-Reutlingen, unweit der Tübinger Altstadt, sind solche Tests Teil des Alltagsgeschäfts. Doch was passiert eigentlich noch alles in der Aidshilfe Tübingen?
„Ja ich hab mehr Leben in meinem Leben.“ – Mark* (Klient der Aidshilfe)
Die diskrete Milchglasfolie, die den Innenraum nach außen hin abschirmt, lässt nicht direkt auf das Innenleben schließen – Ein von Licht durchfluteter offener Raum, gefüllt mit einladenden Sitzbereichen, Gesellschaftsspielen, Belletristik, zum Verkauf stehendem Kunsthandwerk und selbstgepresstem Apfelsaft. Aufklärende Plakate und Broschüren füllen den Raum zusätzlich: „Vorsorge- und Kontroll-untersuchungen bei einer HIV-Infektion“, „Affenpocken – Wichtige Informationen im Überblick“, „Mehr Wissen über sexuell übertragbare Infektionen“ – Die Menge an Material scheint endlos und zieht sich thematisch strukturiert und stets aktuell durch alle Räume des Gebäudes.
Was passiert noch in der Aidshilfe Tübingen-Reutlingen e.V.?
Brigitte Ströbele ist seit zehn Jahren Geschäftsführerin der AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen. Sie erzählt, dass die Aidshilfe in Tübingen bereits seit 1986 existiert. Entstanden ist sie während der Aids-Epidemie in den 1980er Jahren aus der Selbsthilfe und der schwulen Community heraus. Der Grund dafür: „Die Betroffenen kennen sich eigentlich am besten aus“, sagt Ströbele. Eine Professionalisierung der Organisation war wegen der Menge an Infizierten notwendig. „Jetzt ist die Aidshilfe sehr breit aufgestellt“, erzählt sie. So wurde die AIDS-Hilfe immer etablierter und wuchs. Heute besteht die AIDS-Hilfe in Tübingen aus 15 Mitarbeiter*innen. Darunter sind Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Honorar-kräfte wie Ärzt*innen und Pflegekräfte. Inzwischen ist das Angebot der Organisation stark gewachsen. Grundlegend ist es in drei Säulen aufgeteilt – Aufklärung, Prävention und Testung. Was abstrakt klingt bedeutet im Alltag Beratungen zu sexuell übertragbaren Erkrankungen, Sexualität und Drogengebrauch. Darüber hinaus ist die Aidshilfe eine Begegnungsstätte für queere Menschen, Menschen mit sexuell übertragbaren Erkrankungen und Menschen die Drogen gebrauchen.
Eingliederungshilfe um niemanden zurückzulassen
Neben queeren Partys und Selbsthilfegruppen, die von ehrenamtlichem Engagement leben, beschäftigen sich die meisten Mitarbeiter*innen der Aidshilfe in Tübingen mit dem Thema Eingliederungshilfe. Dieser Bereich des Alltagsgeschäfts ist den meisten Außenstehenden nicht bekannt und widmet sich Menschen, die seelische Behinderungen haben oder von seelischen Behinderungen bedroht sind. Brigitte Ströbele erklärt, dass diese Menschen Anspruch auf Eingliederungshilfe haben, um aktiv an der Gesellschaft teilnehmen zu können und keine Ausgrenzung erfahren müssen. HIV allein begründet keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe, da Menschen die HIV-positiv sind und ihre Medikamente gut vertragen alt werden könnten, so Ströbele.
„Da ist HIV oft nicht das wichtigste Thema.“ – B. Ströbele (Geschäftsführerin der Aids-Hilfe)
Trotzdem gibt es Menschen, die ihre Medikamente nicht vertragen oder nicht nehmen, auch eine viel zu späte Diagnose kann fatal sein. Wenn Hepatitis C oder HIV in Verbindung mit einer Suchterkrankung und anderen psychischen Erkrankung diagnostiziert wird, kommt Eingliederungshilfe ins Spiel. Die Aidshilfe Tübingen betreut rund 50 Menschen in ihrem Alltag, bei Arztbesuchen und Organisatorischem. Die Begleitung und Betreuung von Menschen mit Suchtproblemen gehört ebenso zu den Unterstützungs-angeboten der Aidshilfe. Ziel der Eingliederungshilfe ist es, dafür zu sorgen, dass Menschen in ihrem gewohnten Umfeld – zu Hause – bleiben können.
„Es tut einfach gut. Du gehörst mit dazu. Du bist im Leben.“ – Sandra* (Klientin der Aidshilfe)
Mark ist einer der Klienten der Aidshilfe. Er wird von den Mitarbeitenden der Aidshilfe in seinem Alltag unterstützt. Sie ordnet seinen Alltag, gibt ihm einen Raum, in dem er sich sicher fühlen und sein kann. „Der Kontrollzwang ist Hauptproblem. Dass ich die Wohnung verlasse. Dass alles zu, alles aus ist.“ Als Brigitte Ströbele ihn fragt, wie er von der Unterstützung der Aidshilfe profitiert, lacht er. „Ja ich hab mehr Leben in meinem Leben.“ Den Begriff Lebensqualität mag er nicht, findet ihn aber passend. Er erzählt, dass er durch die Angebote der Aidshilfe mehr unter Menschen ist, mehr draußen. Gemeinsam mit anderen Klient*-innen werden Gärten bewirtschaftet, sechs Hühner gehalten und Marmeladen, Vogelhäuschen oder Seifenschalen im Rahmen der Manufaktur+ hergestellt. Außerdem werden Gruppenausflüge wie zuletzt an den Bodensee gemacht, die sonst organisatorisch und finanziell für Einzelne nicht zu stemmen wären.
Sandra* ist ebenfalls Klientin der Aidshilfe. Mark hilft ihr gerade mit ihrem Laptop. Sie ist froh in der Aidshilfe einen Ort gefunden zu haben, der ihr Struktur und Halt gibt. „Ich hab mir das am Anfang nie vorstellen können – Was, Gartenprojekt? Ne! Niemals!“ Inzwischen fragt sie sich, warum sie nicht schon früher mitgemacht hat. „Es tut einfach gut. Du gehörst mit dazu. Du bist im Leben. Du hast eine Aufgabe. Verdienst sogar noch ein bisschen was dabei. Du wirst hier schwerst unterstützt. Du wirst begleitet.“
„Das ist so unsere Idee von Teilhabe.“ – B. Ströbele (Geschäftsführerin der Aids-Hilfe)
Brigitte Ströbele erklärt: Teilhabe an Gesellschaft findet in unterschiedlichen Bereichen statt – dazu gehört das Medizinische aber eben auch der Alltag. In den Urlaub gehen, einen Ausflug machen, Geburtstag feiern, Ostern und Weihnachten. Natürlich sterben auch immer wieder Menschen. Gibt es keine Hinterbliebenen, dann wird die Beerdigung von der Aidshilfe organisiert. Getrauert und gesungen wird dort auch gemeinsam. Der Fokus liegt nicht auf Erkrankungen, sondern darauf, gemeinsam den Alltag zu leben. „Das ist so unsere Idee von Teilhabe.“
Sexuell übertragbare Erkrankungen heute – Schütz dich richtig!
„Man braucht ja auch nicht immer, wenn man an Sex denkt, gleich an HIV denken – das ist ja auch falsch“ – B. Ströbele (Geschäftsführerin)
HIV und andere sexuell übertragbare Erkrankungen haben nicht an Relevanz verloren. Brigitte Ströbele ist der Meinung, die Thematik wird von jungen Menschen wahrgenommen. Ihr Appell: „Hey Leute, testet euch und dann seid ihr auf der sicheren Seite“. Infektionen durch regelmäßige Tests frühzeitig zu erkennen sei wesentlich, um die eigene Gesundheit und das Umfeld zu schützen.
Die Aidshilfe Tübingen-Reutlingen e.V. ist ein Zentrum für sexuelle Gesundheit, eine Anlaufstelle für Menschen mit und ohne HIV und eine Suchthilfeeinrichtung. Außerdem ist die Aidshilfe ein Ort für queere Gruppen. Zu den Angeboten der Aidshilfe gehören unter anderem Aufklärungs- und Präventions-veranstaltungen an Schulen und im Gesundheitswesen und auch der „Checkpoint“, an dem an unter-schiedlichen Tagen anonym und teils kostenlos Beratung und Tests angeboten werden (HIV, HCV, Chlamydien, Tripper, Syphilis). Weitere Informationen gibt es unter www.aidshilfe-tuebingen-reutling-en.de Testungen bietet die AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen allen an die sich unsicher sind oder sich absichern wollen.
*Namen der Klient*innen wurden zum Schutz der Identität geändert
Titelbild: Fany Fazii, Die Fotogräfinnen; Bild 1: Hannah Winkler; Bild 2: Fany Fazii, Die Fotogräfinnen
Was für ein cooler und wichtiger Beitrag! Hab vorher noch nie was von Eingliederungshilfe gehört. 🙂