Über die Volksrepublik China und deren Rolle in der internationalen Politik wird immer häufiger gesprochen. Wer verstehen möchte, aus welchem Selbstverständnis heraus China außenpolitisch zunehmend selbstbewusster auftritt, muss sich mit den inneren Veränderungen beschäftigen, die China in den letzten Jahrzehnten prägten. Einen Überblick lieferte Felix Wemheuer, Professor für Moderne China-Studien an der Universität Köln in seinem Vortrag „Der Aufstieg Chinas. Staatskapitalistische Umwälzungen, globale Neuordnung und soziale Kämpfe“ am letzten Freitag (10.12).
Wie kam es zu dem gewaltigen wirtschaftlichen Aufstiegs China von einem Entwicklungsland zur aktuell zweitgrößten Volkswirtschaft und welche Auswirkungen hat dieser Aufstieg auf die chinesische Gesellschaft? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch Felix Wemheuers Vortrag. In seinem Buch „Chinas große Umwälzung. Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem“, hatte sich Wemheuer bereits intensiv mit den sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der chinesischen Gesellschaft auseinandergesetzt.
Chinas Wiederaufstieg zu alter Größe
„Von Mao über Deng Xiaoping bis Xi Jinping war immer das Ziel: Den Westen einzuholen und zu überholen.“
Felix Wemheuer 10.12.2021
Wemheuer ist es wichtig zu betonen, dass aus sich aus chinesischer Perspektive nicht um einen Wiederaufstieg handelt. Bis ins 18. Jahrhundert war China nahezu kontinuierlich das wirtschaftliche Zentrum der Welt gewesen. Erst in Folge der industriellen Revolution, die sich zuerst in Europa ereignete und von dort ausgehend allmählich im Rest der Welt verbreitete, verlor China seine Rolle als wirtschaftliche Führungsmacht. Der Aufstieg europäischer Kolonialmächte vollzog sich direkt auf Kosten Chinas. Im Laufe des 19. Jahrhunderts unterlag China in zwei Kriegen gegen eine Koalition europäischer Kolonialmächte und verlor so auch an militärischer und politischer Bedeutung.
Für Wemheuer ist klar, dass es seit der Gründung der Volksrepublik China das erklärte Ziel der politischen Führung ist, Chinas vergangenen Großmachtstatus wiederherzustellen: „Von Mao bis Deng Xiaoping bis Xi Jinping war immer das Ziel: Den Westen einzuholen und zu überholen“.
Bereits unter dem ersten Präsidenten und Vorsitzenden der kommunistischen Partei Mao Tse-tung kam es zu einer zunehmenden Orientierung am Westen. Unter seiner Leitung verbündete sich China mit der USA und wandte sich von der Sowjetunion ab. Es gelang der Volksrepublik, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (United Nations UN) zu erhalten.
Dass es zu dieser Veränderung kam, erklärt Wemheuer damit, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine immer größere Zahl an Ländern in Afrika und Asien ihre Unabhängigkeit von Kolonialmächten wie Frankreich oder dem Vereinigten Königreich erhielten. Diese Staaten neigten dazu, als neue Mitglieder der UN andere Staaten zu unterstützen, die sich – so wie China – lange für die Unabhängigkeit der Kolonien ausgesprochen hatten.
Der eigentliche wirtschaftliche Aufschwung setzte jedoch erst unter Maos Nachfolger, Deng Xiaoping ein. Dieser schuf mehrere Sonderwirtschaftszonen, in denen sich ausländische Unternehmen vereinfacht ansiedeln konnten. China konnte so auch davon profitieren, dass ab den 1970er Jahren zunehmend mehr Unternehmen Teile ihrer Industrieproduktion ins Ausland verlagerten. Dort profitierten sie unter anderen von den niedrigeren Lohnkosten und geringeren Umweltauflagen, so auch in China. Auch wenn so zunächst nur ein industrieller Niedriglohnsektor entstand, betont Wemheuer, dass von chinesischer Seite von Beginn an strategische Ziele verfolgt wurden. Von den Investitionen ausländischer Unternehmen erhoffte man sich langfristig das nötige Kapital und Wissen, um eine eigenständige chinesische Industrie zu schaffen.
Schaut man sich die Größe des Brutto-Inlandsprodukts an, könnte man meinen, dass Chinas wirtschaftlicher Wiederaufstieg längst vervollständigt sei: Bislang erbringen lediglich die USA eine größere Wirtschaftsleistung und die nächstgrößte Volkswirtschaft Japan folgt mit großem Abstand. Blickt man jedoch auf die Größe der Wirtschaft im Verhältnis zu Einwohnerzahl, sieht das Bild anders aus: Trotz der Erfolge der letzten Jahrzehnte liegt das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen im weltweiten Vergleich bislang noch im mittleren Bereich. Für Wemheuer ist daher fraglich, inwieweit das Ziel als erreicht betrachtet werden kann.
Führt Chinas Aufstieg zu einer Konfrontation mit den USA?
„China hat einen Militärstützpunk im Ausland, die USA haben auf der ganzen Welt hunderte“.
Felix Wemheuer 10.12.2021
Der nach 1978 einsetzende wirtschaftliche Wiederaufstiegs Chinas setzte sich über die folgenden Jahrzehnte fort, begünstigt durch die immer stärkere Globalisierung und wirtschaftliche Vernetzung der Welt. Mittlerweile, so sieht es Wemheuer, sei der Aufstieg Chinas dabei sogar so weit fortgeschritten, dass er zunehmend auch die USA alarmiere. Diese seien spätestens seit der Amtszeit Präsident Obamas zunehmend bemüht, den wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt Chinas auszubremsen.
Wemheuer geht davon aus, dass die chinesische Regierung sich durchaus bewusst war, dass es früher oder später zu einem Konflikt mit den USA kommen könnte. Er glaubt allerdings, dass die chinesische Regierung einer Konfrontation zum jetzigen Zeitpunkt eher aus dem Weg gehen wird. Dies begründet er damit, dass die USA China militärisch noch weit voraus sind: „China hat einen Militärstützpunk im Ausland, die USA haben auf der ganzen Welt hunderte“. In China wünscht man sich daher, trotz des Strebens nach mehr Einfluss, eine Deeskalation des Konflikts mit den USA.
Industrieller Fortschritt, aber zu welchem Preis?
„Es gibt viele chinesische Familien, die sich nur einmal im Jahr sehen.“
Felix Wemheuer 10.12.2021
Im zweiten Teil seines Vortrags beschäftig sich Wemheuer mit den massiven gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergingen. Die rasante Industrialisierung seit 1978 sorgte für einige nicht weniger rasante Zunahme des Anteils der Bevölkerung, der in Städten anstatt auf dem Land lebt. 2011 überstieg die Anzahl der Stadtbewohner*innen erstmals die der Landbewohner*innen. Diese Veränderung, so argumentiert Wemheuer, hatte massive Auswirkungen auf das tägliche Leben und Zusammenleben der Menschen.
Einen großen Einfluss hatte dabei das System des chinesischen Wohlfahrtstaats. In diesem wird den Menschen im sogenannten Hukou-System eine konkrete Kommune zugeteilt. Außerhalb dieser Kommune sind sie und ihre Angehörigen nicht berechtigt, bestimmte öffentliche und soziale Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Das führt dazu, dass die Kinder von Arbeiter*innen vom Land oft nicht berechtigt sind, in der Stadt zur Schule zu gehen, in der ihre Eltern wohnen und arbeiten. Arbeiter*innen aus ländlichen Gegenden sind daher oft gezwungen ihre Kinder bei deren Großeltern zurückzulassen, wenn sie in den Städten Arbeit finden. Viele Kinder wachsen dadurch nahezu ohne Kontakt zu ihren Eltern auf. „Es gibt viele chinesische Familien, die sich nur einmal im Jahr sehen“, merkt Wemheuer an.
In den Städten wiederum führten die Privatisierungen von Staatsunternehmen zu Entlassungswellen. Dies begünstigte die Entstehung eines neuen Dienstleistungssektor, in dem oftmals diejenigen Arbeiter*innen unterkamen, die zuvor in den Staatsunternehmen gearbeitet hatten – jedoch bei schlechterer Bezahlung.
Arbeitsbedingungen und Lebensumstände der Arbeiter*innen oftmals prekär
Dadurch, dass viele der Arbeiter*innen in der neu entstanden Industrie vom Land kamen und nicht längerfristig in den Städten mit ihren höheren Lebenskosten bleiben wollten, waren ihre Ansprüche, was Arbeitsbedingungen und Löhne anging, vergleichsweise gering. Die nachfolgenden Generationen haben diesbezüglich jedoch deutlich höhere Ansprüche und sind auch eher bereit, für höhere Löhne zu streiken.
Doch obwohl es seit Beginn der 2000er Jahre vermehrt zu größeren Streiks und Protesten kommt, bleibt deren Wirkung eher gering. Wemheuer erklärt dies damit, dass die Gewerkschaften, sofern Arbeiter*innen überhaupt in welchen organisiert sind, oftmals keine reinen Arbeitervertretungen sind: „In China gibt es staatliche Gewerkschaften, die im besten Fall eine Vermittlungsrolle einnehmen, aber im Prinzip die Interessen der Regierung vertreten.”
„Es wird in der Soziologie von einem despotischen Kontrollregime in den Fabriken gesprochen“
Felix Wemheuer 10.12.2021
Die Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter*innen sind daher nach wie vor eher schlecht. Arbeitszeiten von zwölf Stunden an sechs Tagen die Woche sind die Regel. Überstunden werden nicht immer bezahlt. Zwar gibt es mittlerweile gesetzlich festgelegte Mindestlöhne, die regional variieren. Wemheuer wendet jedoch ein, dass die Mindestlöhne oft nicht ausreichen, um sich das Leben in den chinesischen Metropolen leisten zu können.
Neben den Arbeitsbedingungen sind auch die weiteren Lebensumstände der Arbeiter*innen in den Fabriken oft prekär: „Es gibt das sogenannten Wohnheimregime, das heißt viele Arbeiter wohnen auf dem Werksgelände und sind einer 24-stündigen Kontrolle durch den Arbeitgeber unterworfen. Es kann passieren, dass man für Sonderschichten eingeteilt wird.“ Des Weiteren gibt es in den Wohnheimen und am Arbeitsplatz oft eine klare Hierarchie zwischen den Geschlechtern: „Es sind sehr oft Männer, die als Vorarbeiter eingesetzt werden, oder die eingesetzt werden zur Überwachung der Frauen“, so Wemheuer. Diese ungleichen Machtverhältnisse ermöglichen auch, dass es oft zu sexuellen Übergriffen auf Arbeiterinnen kommt.
Soziale Umwälzungen ohne politische Folgen?
Die zunehmende Bereitschaft, für bessere Lebensbedingungen zu streiken und zu protestieren, könnte laut Wemheuer langfristig dazu führen, dass sich die Lebensumstände chinesischer Arbeiter*innen verbessern. Hierzu trägt auch die schnelle Alterung der Gesellschaft bei. Der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter nimmt allmählich ab. Arbeiter*innen sind daher in einer besseren Verhandlungsposition gegenüber der Arbeitgeberseite als zuvor. Wemheuer geht jedoch nicht davon aus, dass die Zunahme an Protesten von Arbeiter*innen zu politischen Veränderungen in China führen wird. „Die meisten Proteste werden nicht offensiv gegen die Regierungsbehörden gerichtet. Es sind eher Appelle an die nächsthöhere Regierungsinstanz“. Denn für alltägliche Schwierigkeiten mache die Bevölkerung die Zentralregierung in Peking meist gar nicht verantwortlich. So erläutert Wemheuer: „Wenn es um Probleme geht, ist in China der Glaube relativ weit verbreitet, dass lokale Behörden verantwortlich sind oder Lokalunternehmen schlecht sind, aber es gibt immer die Hoffnung, dass die Zentralregierung eingreifen kann und manchmal macht sie das auch.“
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