Ob Shein, Wish oder Temu – die meisten von uns werden wohl schon mal auf einer dieser Websites eingekauft haben. Es ist einfach so verdammt günstig. Sicher, die Lieferzeiten aus China können schon mal mehrere Wochen betragen und besonders hochwertig sind die Produkte auch nicht gerade, aber eben billig. Doch wer trägt eigentlich die Rechnung dafür, dass diese Produkte dermaßen billig angeboten werden können? – Ein Kommentar.
Die Antwort vorneweg: Wir alle. Die ausgebeuteten Arbeitskräfte in China, Bangladesch und Indien leiden selbstverständlich am meisten und am direktesten unter Dumpinglöhnen und unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Aber dass wir auf dem einheimischen Markt Produktionsgüter, die eigentlich viel mehr kosten müssten, zu einem so niedrigen Preis erwerben können, hat auch negative Konsequenzen für uns. Nicht nur betreffen uns die niedrigen Produktionsstandards durch ihre klimatischen Auswirkungen – alleine das Angebot von Billigkopien bereits vorhandener, teurerer Produkte sorgt dafür, dass unser Konto am Ende des Monats nicht etwa mehr, sondern tatsächlich sogar weniger Geld führt, als wenn es die Billigprodukte gar nicht gäbe. Das mag erst einmal widersprüchlich wirken, lässt sich aber ganz einfach begründen. Dafür begeben wir uns auf eine Reise ins Großbritannien des 19. Jahrhunderts.
Billigware früher…
In Der Produktionsprozess des Kapitals, dem ersten Band seines Magnum Opus Das Kapital, beschreibt Karl Marx, dass es im London von 1862 zwei Arten von Bäckern gab: Diejenigen, die ihre Backware full-priced verkauften, also zum vollen Preis, und so genannte undersellers, die ihre Ware darunter verkauften, also unter ihrem eigentlichen Wert. Letztere machten drei Viertel der Bäcker aus und konnten ihre Niedrigpreisstrategie auf zweierlei Weisen verfolgen: Erstens, indem sie den Brotteig u.a. mit Kalk, Seife, Asche und Steinmehl streckten, also die Brotqualität verfälschten; zweitens indem sie die Bäckergesellen, die die eigentliche Arbeit leisteten, unbezahlte Überstunden schuften ließen – 18 Stunden Arbeit für 12 Stunden Lohn.
Marx weist außerdem darauf hin, dass diese Bäcker sich mit ihrer Billigware explizit an ärmere Leute richteten, da diese sich das teurere Brot schlichtweg nicht immer leisten konnten und somit auf das Brot vom „Billigbäcker“ angewiesen waren. Die Qualitätseinbußen mussten viele also einfach hinnehmen. Das billige Brot versorgte die Leute aber nicht nur mit weniger Nährstoffen als das teurere, sondern machte sie auch krank. Hygienemängel und das Strecken von Brotteig waren zwar ein industrieweites Problem, aber zumindest die Brotverfälschung war 1862 schon lange bekannt und bereits gesetzlich reguliert – woran sich nur nicht alle hielten. Jedenfalls hatten große Teile der Arbeiterklasse damals aus finanzieller Not nur Zugang zu minderwertiger Ware, verglichen mit denjenigen, die sich ein besseres Brot leisten konnten.
…und heute
Marx verwendet dieses Beispiel, um die Ausbeutung von Arbeitskraft allgemein darzustellen, aber es zeigt auch, dass Billigware kein neues Phänomen ist. Die skrupellose Vorgehensweise bei der Produktion ist heute ebenfalls vorhanden und sogar noch deutlicher zu sehen. Allerdings wird Billigware heute nicht mehr nur von Kapitalist*innen in Form von einzelnen Personen angeboten, sondern auch von riesigen globalen Konzernen. So auch das, je nach Quelle, 60 bis 100 Milliarden Dollar schwere Shein, ein äußerst populäres Ultra-Fast-Fashion-Unternehmen, bekannt für seine billige Kleidung, geklauten Designs und wochenlangen Lieferzeiten. Bis letztes Jahr saß der Konzern in Guangzhou, Hauptstadt der chinesischen Provinz Guangdong und eine der vielen dortigen Sonderwirtschaftszonen (SEZ), in denen Industrie und Staat es mit Zoll-, Steuer- und Arbeitsrecht nicht ganz so genau nehmen. Der Mutterkonzern Shenzhen Global E-Commerce trägt den Sitz in einer SEZ sogar im Namen.
Das Arbeitsrecht und Arbeiterschutz für Shein tatsächlich völlig fremd sind, zeigt sich an den vielfach geäußerten Vorwürfen der modernen Sklaverei, wegen derer in den USA sogar Abgeordnete beider Parteien gemeinsam aktiv geworden sind: Der Konzern soll Ware aus der uigurischen Provinz Xinjiang bezogen haben, wo sehr häufig Uiguren und andere politisch verfolgte ethnische Minderheiten für Zwangsarbeit in Arbeitslagern versklavt werden. Der Import von Ware aus Xinjiang ist in den USA aus diesem Grund seit 2021 verboten. Zu den Arbeitsbedingungen in Xinjiang hat die Schweizer NGO Public Eye 2021 außerdem eine sehr umfangreiche Investigativrecherche veröffentlicht. Und das alles berücksichtigt noch nicht die katastrophalen ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen der in der Billig-Textilproduktion eingesetzten Chemikalien.
Das Problem für die westliche Konsumgesellschaft
Doch was hat das nun alles mit uns zu tun? Wie im Beispiel von Marx’ Kapital betrifft die Existenz qualitativ minderwertiger Ware auch heute diejenigen, die diese Ware kaufen. Zwar ist Kleidung ein weniger grundlegendes Bedürfnis als Nahrung, Wocheneinkäufe werden schließlich bei Lidl und nicht bei H&M getätigt. Aber wer jeden Cent umdrehen muss, kauft natürlich dort, wo es am günstigsten ist. Zumal es anmaßend wäre, sich selbst ein gewisses Maß an Konsum zu gewähren und anderen nicht. Wer sich also ein bestimmtes, für die meisten Menschen erschwingliches Kleidungsstück zulegen möchte, sich aber den gewöhnlichen Preis nicht leisten kann, wird Angebote wie bei Shein dankend annehmen. Und das kann man niemandem zum Vorwurf machen, da man den Menschen sonst vorwerfen würde, dass sie ein geringes Einkommen haben.
Schließlich besteht genau darin das eigentliche Problem: Aus sozialistischer Sicht sind nicht die Hersteller der Billigware und ihre Geschäftspraxis das Problem, sondern die Tatsache, dass manche Menschen so wenig Geld haben, dass sie sich nur diese Billigware leisten können. Denn das macht den Erfolg eines solchen Geschäftskonzepts und die Existenz von Konzernen wie Shein überhaupt erst möglich.
Der einfache Grundgedanke: Faire Löhne für alle sind die Alternative zu erschwinglicher aber minderwertiger Ware durch miserable Produktionsbedingungen. Genauer gesagt, das Ermöglichen eines gewissen Existenzminimums – sei das über die Löhne, ein bedingungsloses Grundeinkommen oder ähnliche (staatliche) Maßnahmen. Ganz gemäß dem Prinzip, nicht nur eine Symptomatik zu behandeln, sondern das Problem an der Wurzel anzupacken. In diesem Fall bedeutet das für die Wirtschaft, nicht einfach nur Billigware anzubieten, wenn Menschen sich das hinreichende Erfüllen eines Grundbedürfnisses nicht leisten können, sondern zu hinterfragen, warum das überhaupt so ist und dafür zu sorgen, dass sich das ändert.
Temu und Datensicherheit
Doch dem steht die kapitalistische Propaganda von Plattformen wie Temu im Weg – ein Online-Marketplace vergleichbar mit AliExpress, quasi das Amazon für Billigware aus China. Das Geschäftskonzept nennt sich Dropshipping und besteht darin, massenhaft meist enorm billig produzierte Produkte ebenso billig beim Hersteller einzukaufen und teurer zu verkaufen. Hinter Temu verbirgt sich, wer hätte es gedacht, ebenfalls eine chinesische Firma: PDD Holdings, vormals mit Hauptsitz in Shanghai (ebenfalls eine SEZ), nun in Dublin (Steueroase) und offiziellem, eingetragenem Sitz auf den Cayman Islands – eine noch viel beliebtere Steueroase mit unzähligen Briefkastenfirmen.
Über die App von Temus Schwesterplattform Pinduoduo hat PDD Holdings laut einer CNN-Recherche mithilfe einer Malware Nutzerdaten in noch nie gesehenen Ausmaß ausgespäht, sogar in anderen Apps. PDDs Spyware bekommt man auch nach einer Deinstallation der App nur durch Zurücksetzen des Geräts auf Werkeinstellungen vollständig vom Handy. Auch die Temu-App erfragt und benötigt zum Teil sogar die Zugriffsberechtigung für so ziemlich alles: Mail, Mikrofon, Kamera, Kontakte, Standort, wirklich alles. Darüber hinaus sammelt Temu fleißig frei zur Verfügung gestellte persönliche Nutzerdaten wie Geburtsdatum, Name, Wohnort, IP-Adresse und natürlich Zahlungsdaten. Und wer die PC-Website aufruft, serviert Temu den eigenen Browserverlauf auf dem Silbertablett. Verkauft man nämlich die Datensätze von hunderten Millionen Usern, kann man die Produkte auf der Plattform umso billiger verkaufen und dabei sogar Verluste hinnehmen. Der Kunde bezahlt mehr mit seinen Daten als mit seinem Geld und wird so selbst zur Ware.
Bedenkt man also, dass die Betreiber von Temu sowohl spionieren können als auch wollen, und dass die ebenfalls chinesische App Tiktok ähnlich sensibel mit Nutzerdaten umgeht, sollte man zumindest von der App definitiv die Finger lassen. Außerdem steht Temu ebenfalls unter Verdacht, Baumwolle aus der uigurischen Provinz Xinjang, also aus Zwangsarbeit bezogen zu haben.
Die Selbsterhaltung des Kapitalismus…
Temu spamt seit Monaten das Internet zu mit ihrem penetranten Werbespot und wirbt überall mit dem Slogan „Shopping like a billionaire“, auf Deutsch „Shoppe wie ein Milliardär“, beziehungsweise mittlerweile „Shoppe wie Milliardäre“. In diesem Spruch spiegelt sich der Zynismus des Kapitalismus unverkennbar wieder. Menschen wird Wohlstand vorgegaukelt und ein Kapitalist kann sagen: „Ihr habt doch alles, was ihr braucht.“ Aber wer sich nur qualitativ minderwertige Produkte leisten kann, die noch dazu durch eine humanitär und ökologisch desaströse Produktionsweise möglich gemacht wurden, hat nicht dieselben Mittel wie der Rest der Gesellschaft. Die Billigware von undersellers wie Shein oder auch Händlern auf Online-Marktplätzen wie Temu oder Wish hat trotz schlechter Qualität so viel Erfolg, solange Menschen so wenige finanzielle Mittel zur Verfügung haben, dass sie auf die niedrigen Preise angewiesen sind.
Zugegeben lässt diese Argumentation das Wegwerfmode-Mindset vieler Konsument*innen außen vor. Allerdings geht es gerade beim Design-Dieb Shein auch darum, das (vermeintlich) gleiche Kleidungsstück oder Accessoire günstiger zu bekommen als anderswo – oftmals eben auch aus Notwendigkeit. Und Wish mag hauptsächlich bekannt sein für seinen Schrott, doch gerade Temu, das als Konkurrenz zu Shein gegründet wurde, wirbt in seinem 30-sekündigen Spot mit extrem niedrigen Preisen für Kleidung und modische Accessoires. Solange also Menschen wenig Geld haben, hat Billigware Erfolg.
Aber das gilt auch umgekehrt: Wer glaubt, sich alles Notwendige leisten zu können, wird sich eher mit dem zufrieden geben, was er hat, und die Grausamkeit des Kapitalismus weniger in Frage stellen. Das gilt vor allem dann, wenn es immer eine billige (und minderwertige) Alternative zu einem Standard-Produkt gibt, die nicht sofort oder nicht genügend als minderwertig empfunden wird. Wer sich hingegen ohne die Existenz einer mangelhaften Billigversion ein gewünschtes oder gar erforderliches Produkt schlichtweg nicht leisten kann, wird das eher als Benachteiligung wahrnehmen und dagegen protestieren. Und wer sich ohne große Mühen den Lebensstil mit dem durchschnittlichen Gehalt einer Lehrkraft leisten kann, der kann sich auch full-priced Konsumgüter leisten und hat keinen Grund, Billigware zu kaufen. Wir erinnern uns, bei Marx waren die underselling Bäcker nur deswegen so erfolgreich, weil so viele Menschen auf den niedrigen Preis angewiesen waren, auch wenn sich das natürlich nicht 1:1 übertragen lässt.
… und der Lösungsweg des Sozialismus
Was wir also stattdessen bräuchten, ist eine demokratisch-sozialistische Herangehensweise, in der zwei Dinge passieren: Zum einen müssen Billigwaren-Produzenten in ihren Möglichkeiten am deutschen (und europäischen) Markt eingeschränkt werden. Beispielsweise mit einem vernünftigen Lieferkettengesetz und einem Werbeverbot für ausländische Unternehmen ohne Niederlassung in Deutschland, die also nur online Geschäfte tätigen, wenn sie gewisse Standards nicht einhalten. Zum anderen, ohne gleich Hammer und Sichel hervorzuholen, bräuchte es einen Aufstand der Arbeiterklasse. Soll heißen, ein kollektives Aufbegehren gegen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit und das in solchem Ausmaß, dass sich an den Vermögensverhältnissen etwas wesentlich ändert.
Es wäre schon ein Fortschritt, wenn sich größere Teile der Arbeiterklasse der kapitalistisch bedingten Ungleichheit bewusst würden, unter der sie ja am meisten zu leiden haben. Erst wenn sich die Menschen verbinden und über Gewerkschaften und sonstiges politisches Engagement Druck auf Arbeitgeber*innen und Politik ausüben; wenn sie denjenigen eine Stimme geben, die wirklich etwas verändern wollen, erst dann wird sich etwas ändern. Wer aus reiner Sparsamkeit auf Billigware setzt, setzt auf das falsche Pferd, und wer es aus finanzieller Notwendigkeit tut, sollte sich umso mehr dafür einsetzten, dass diese Notwendigkeit nicht mehr besteht.
Beitragsbild: Temu
heftig gutr test
falls du ‘Text’ meintest: Danke 🙂