Politik

Der Tübinger Sonderweg: Warum Palmers Corona-Politik in den Schlagzeilen ist

Im Dezember wurde der “Tübinger Weg” bundesweit in sämtlichen Talkshows und Artikeln diskutiert. Doch viele Tübinger Studierende sind sich unklar darüber, was das Besondere an dieser Strategie ist. Welche Maßnahmen gibt es? Wie sinnvoll sind diese und was fordert OB Boris Palmer noch? Wir klären die wichtigsten Fragen.

Deutschlands bekanntester Oberbürgermeister tourt durch die Republik und sorgt für Schlagzeilen. Dank kräftiger finanzieller Unterstützung seitens der Stadt in Höhe von einer halben Million Euro gibt es in Tübingen einen umfangreichen Maßnahmenkatalog zur Eindämmung des Virus. Die zentrale Rolle spielt hierbei der Schutz der Risikogruppen, um so die Belastung für das Gesundheitswesen zu minimieren und die Todesfälle gering zu halten. Zu diesen Maßnahmen gehören:

  • kostenlose FFP2-Masken für alle Menschen über 65 seit November
  • spezielle Einkaufszeitfenster für Senioren zwischen 9 und 11 Uhr morgens
  • Seniorentaxen zum Preis eines regulären Bustickets
  • engmaschige Corona-Testungen in Alten- und Pflegeheimen seit September
  • öffentliche Corona-Testungen mithilfe des DRK-Testmobils seit Beginn der zweiten Welle

Der Tübinger Weg – Ein Erfolgsmodell?

Doch wie wirksam sind diese Maßnahmen? Boris Palmer hat diesbezüglich eine eindeutige Meinung. „Die Tübinger Coronapolitik hätte jeglichen Lockdown verhindern können”, verkündete er Mitte Dezember in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung. Ob dies tatsächlich der Wahrheit entspricht, liegt wohl eher im Bereich der Spekulationen, tatsächlich geben ihm die Ergebnisse aber teilweise recht. Zwar konnte sich Tübingen nicht immer durch besonders niedrige Inzidenzwerte auszeichnen, jedoch wurden, vermutlich durch die engmaschigen Testsysteme, Großausbrüche in Altenheimen weitestgehend verhindert.

Betrachtet man allerdings die Zahlen des aktuellen Monats, bezüglich der Infizierten Personen über 60, zählt Tübingen nicht zu den Vorreitern. Der Inzidenzwert dieser Altersgruppe liegt sogar leicht über dem Durchschnitt des Landes Baden-Württemberg. Tatsächlich leistete sich Boris Palmer einen Fauxpas, als er Anfang Dezember medienwirksam verkündete, es gebe keine Infizierten über 75. Schon ein paar Tage später musste er zurückrudern, da es zu Fehlern in der Datenübertragung gekommen war. Tatsächlich hatten sich sechs statt null Personen mit dem Virus angesteckt.

Trotzdem können die Maßnahmen in Tübingen als sinnvoll eingeschätzt werden. Schließlich beschloss auch die Bundesregierung Mitte Dezember, kostenlose FFP2-Masken für Risikogruppen und einheitliche Testsysteme in Altenheimen einzuführen. Dass bei einer früheren Einführung dieser Maßnahmen der Lockdown hätte verhindert werden können, ist hingegen nur schwer vorstellbar. Die Gesellschaft für Virologie meint dazu: Wenn es zu viele Fälle in der Gesellschaft gibt, „sind die Nachverfolgung einzelner Ausbrüche und strikte Isolationsmaßnahmen nicht mehr realisierbar“, schreibt sie in einer Stellungnahme. Dann sei „eine unkontrollierte Ausbreitung in alle Bevölkerungsteile, einschließlich besonders vulnerabler Risikogruppen, nicht mehr adäquat zu verhindern“.

Die Technik soll es richten

Doch in Boris Palmers Agenda stehen schon weitere Ideen zur Eindämmung des Virus. Das neueste Thema im Blickpunkt ist die viel gescholtene Corona-Warn-App. Hier will sich der Oberbürgermeister ein Vorbild an Taiwan nehmen. Dabei wettert er bei einem Livetalk gegen den sogenannten „Datenschutz-Kult“ in Deutschland. Es gehe darum, „die App scharf zu schalten“ und die Wirksamkeit deutlich zu erhöhen. Er fordert eine Abkehr von strengen Vorschriften im Rahmen der Privatsphäre, um eine bessere Kontaktnachverfolgung mithilfe der Corona-App zu ermöglichen.

Dabei will er die Aufzeichnung von Zeit und Ort einer Begegnung ermöglichen und diese an die betreffenden Personen weitergeben. Darüber hinaus sollen Personen, die die Corona-Warn-App nicht nutzen, mittels Mobilfunkdaten geortet und im Falle einer Risikobegegnung informiert werden. Das finale Ziel ist, dass der Prozess der Kontaktnachverfolgung vollautomatisch stattfindet. Das soll selbst bei hohen Fallzahlen eine schnelle Benachrichtigung aller betreffenden Personen ermöglichen. Palmer vermutet, dass eine erhöhte Wirksamkeit der App mehr Bürger*innen motivieren würde, diese auch herunterzuladen.

Allerdings gibt es in dem ostasiatischen Inselstaat Taiwan auch viele innovative digitale Projekte, die im Rahmen unserer Datenschutzbestimmungen durchführbar sind. Zum Beispiel eine App, welche es den Nutzer*innen ermöglicht, zu überprüfen, in welchen Apotheken derzeit geeignete Hygieneprodukte, zum Beispiel FFP2-Masken, angeboten werden. Und auch so gibt es Möglichkeiten, die deutsche Corona-App zu verbessern, ohne den Datenschutz zu vernachlässigen.

Ein Vorschlag sieht die Anbringung von QR-Codes in Testzentren vor.  Diese könnten vor einem Test gescannt werden, wodurch das Testergebnis bei Vorlage automatisch hochgeladen wird – ohne dass die betroffene Person noch eingreifen muss. Viele Kritiker*innen fordern daher zuerst eine konsequente Umsetzung von datenschutzfreundlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Corona-App, bevor das nächste Grundrecht, die Privatsphäre, eingeschränkt wird. 

Beitragsbild: Thomas Dinges

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