Politik

„Aus dem Führertum fließt das Richtertum“ – Vorlesung zur Richterschaft im NS

Autoritäres Auftreten, Untergrabung Weimars und grenzenlose Rechtsauslegung: Professor Franz Josef Düwell spricht über Bild und Funktion des Richters in Kaiserreich, Republik und NS-Herrschaft. Warum der NS-Staat ohne das Versagen der Justiz nicht funktioniert hätte.

Der Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (AKJ) hat am Freitag vergangener Woche in Kooperation mit dem AK Politische Bildung der Verfassten Studierendenschaft eine Ringvorlesung zu Rechtswissenschaft und Richterschaft in der Weimarer Republik und der NS-Zeit veranstaltet. Anlass war die Aktionswoche zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Professor Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht außer Dienst, referierte im Hörsaal 05 der Neuen Aula über bedeutende Urteile der NS-Zeit und analysierte deren Auswirkung auf den NS-Staat. Schwerpunkt war die Entwicklung des Richterbildes und der Umgang mit moralisch und rechtlichen Konflikten.

Autoritär-militaristisches „Richterkönigtum“

Düwell leitete seinen Vortrag mit dem Richterbild im Deutschen Kaiserreich ein. Richter hätten sich als Stellvertreter des Kaisers, Königs oder Fürsten und damit selbst als gefühlter König verstanden, beschrieb er. Anhand eines Ausschnitts aus der Deutschen Juristen-Zeitung machte er dies deutlich: „Mit seinem Amte wird dem Richter zugleich die stellvertretende Autorität des Staates beziehungsweise seines Herrschers übertragen.“ Dementsprechend lehnte das Richtertum weibliche Juristinnen – im Gegensatz zu modernen Berufen wie Telefonistinnen oder Akademikerinnen anderer Fachrichtungen – ab.

Am 9. November 1918 wurde die Weimarer Republik ausgerufen. Richter sollten fortan unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sein (Artikel 102 der Weimarer Reichsverfassung). Außerdem ließ die Republik Frauen zu Ämtern und Berufen der Rechtspflege zu. Beides, so Düwell, sei beim Deutschen Richterbund auf schärfste Ablehnung gestoßen. Im Kontrast dazu hätten Unterstützer dieser politischen Trendwende den Republikanischen Richterbund mit dem Selbstverständnis gegründet, als Jurist auch einer sozialen Funktion nachzukommen. Wer die Mehrheit der Richter hinter sich wissen durfte, blieb allerdings eindeutig: Im Jahr 1921 waren von 10.000 Richtern im Reich 8.000 im (alten) Deutschen Richterbund und 300 im (neuen) Republikanischen Richterbund vertreten.

Auf dem rechten Auge blind?

Als Beispiel der politischen Gesinnung vieler Richter präsentierte der Professor eine Urteilsstatistik für die ersten vier Jahre der Republik. 324 politische Morde von rechts seien unter anderem mit insgesamt 90 Jahren und zwei Monaten Zuchthaus sowie einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet worden. Dagegen seien 22 politische Morde von links mit insgesamt 10 Todesurteilen durch Erschießen, 248 Jahren und neun Monaten Zuchthaus sowie drei lebenslänglichen Zuchthausstrafen geahndet worden.

Kurt Tucholsky, einer der bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik, fand dafür klare Worte: „Das ist keine schlechte Justiz. Das ist keine mangelhafte Justiz. Das ist überhaupt keine Justiz.“ Bild: Sonja Thomassen, via Wikimedia Commons

Bayern und der „gerechte Richter des Führers“

Die bayerische Justiz hatte schon früh eine bemerkenswerte Verbindung zu radikalen völkischen Kreisen und unterstützte Hitler maßgeblich. So nahmen, wie Düwell berichtete, am Hitlerputsch vom 8. und 9. November 1923 zwei Richter des Obersten Bayerischen Landesgerichts (OLG) teil. Erwähnenswert sei auch der Prozess gegen Hitler vor dem Bayerischen Volksgericht in München: Der Vorsitzende Richter Georg Neithardt soll gegenüber dem des Hochverrats angeklagten Hitler vom „Hochverrat des Reichspräsidenten“ gesprochen haben.

„Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler […] kann […] die Vorschrift des Republikschutzgesetzes keine Anwendung finden.“

Urteil vom 1. April 1924 zu Hitlers Putsch, Bayerisches Volksgericht

Später habe Neithardt Hitlers rechtskräftige Vorstrafen (üble Nachrede, Landfriedensbruch, Hochverrat) sowie die Tatbestände des Bankraubs und des Polizistenmordes für eine Strafaussetzung unterschlagen – mit Erfolg. Obwohl das Republikschutzgesetz zwar für vorbestrafte Ausländer wie Hitler zwingend die Ausweisung vorsah, lautete das Urteil wie folgt: „Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler […] kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift des Republikschutzgesetzes keine Anwendung finden.“ In den Augen des Reichsjustizkommissars war Neithardt ein „gerechter Richter des Führers“, der OLG-Vizepräsident bezeichnete Neithardts Urteil eine als von „weltgeschichtlicher Bedeutung“, das die folgende Machtergreifung möglich gemacht habe.

Nach der Machtergreifung: Justiz, SA und SS machen gemeinsame Sache

Ferner schilderte Düwell, wie die Justiz nach Hitlers Machtergreifung mittels Straferlassen und Begnadigungen Straftäter der Sturmabteilung (SA) und der Schutzstaffel (SS) schützte und damit politische Feinde bedrohte. Dabei zog er eine Parallele zu Trumps Begnadigungen bezüglich der wegen des Sturms auf das US-Kapitol Verurteilten. Als Beispiel aus dem NS-Staat nannte er die Haftstrafen für drei SS-Funktionäre wegen Totschlags in Tateinheit mit Amtsanmaßung und schwerer Freiheitsberaubung in Höhe von einem, zwei und fünf Jahren – allein der Todschlag sieht eigentlich eine Mindeststrafe von fünf Jahren vor (Paragraph 212 des Strafgesetzbuches).

Darüber hinaus hätte die Staatsanwaltschaft Anklage bezüglich jeder einzelnen Straftat in den KZs erheben müssen. Dem seien die Staatsanwälte jedoch nicht nachgekommen und hätten lediglich ihren Vorgesetzten berichtet. Stattdessen schilderte der Professor die pauschale Auslieferung sicherungsverwahrter Juden, „Zigeuner“, Russen, Ukrainer und Tschechen an die SS. Polen mit über drei Jahren sowie Deutsche mit über acht Jahren Haft seien ebenfalls ausgeliefert worden. Der Aktenvermerk „RU“ (Rückkehr unerwünscht) kam einem Todesurteil gleich.

Referendarausbildung: Das Paragraphensymbol am Galgen

Den Referendaren boten sich im neuen NS-System weitreichende berufliche und gesellschaftliche Aufstiegschancen – allerdings unter nicht verhandelbaren Bedingungen. Der ehemalige Richter zählte hierfür die vorbehaltslose Gefolgschaft für den NS-Staat und den Ausschluss aller als jüdisch definierten Juristen aus der Justiz auf.

Der preußische Justizminister Kerrl (r) besucht Lagerleiter Oberstaatsanwalt Spieler (m) und SA-Sturmführer Heesch (l) im Referendarlager in Jüterbog, August 1933. Bild: Cebuocher, via Wikimedia Commons

Otto Palandt, Präsident des Reichsjustizprüfungsamtes, empfahl den Eintritt in eine der paramilitärischen Organisationen wie der SA oder SS. Eines der wichtigsten Standardwerke der deutschen Rechtswissenschaft trug bis zur 80. Auflage 2021 den Namen Palandt (heute Grüneberg).

Allmächtige NS-Richtersoldaten

Die NS-Justiz stellte das Führerprinzip über bestehende Rechtsnormen. „Aus dem Führertum fließt das Richtertum“, zitierte Düwell den Kölner Professor Carl Schmitt. Die NS-Ideologie diente als Grundlage jeder Rechtsauslegung. Da eine sofortige völkische Rechtserneuerung nicht allein durch die Gesetzgebung möglich gewesen sei, hätten Juristen in vorauseilendem Gehorsam Methoden zur Umdeutung der gesamten Rechtsordnung geschaffen.

Aufgrund lückenhafter Dokumentation und fehlender Statistiken innerhalb der letzten Monate vor Kriegsende handelt es sich bei den Zahlen um eine Schätzung. Bild: statista.com

Der Grundsatz „Recht ist, was dem Volke nutzt“ führte zu exzessiven Todesurteilen. Allein der Volksgerichtshof verhängte über 5.000 Mal die Todesstrafe. Ein Beispiel für die uneingeschränkte Auslegung des Rechts ist die Hinrichtung von Werner Holländer wegen „Rassenschande“, obwohl das so genannte Blutschutzgesetz nur Gefängnis vorsah. Der Gerichtsvorsitzende soll den widersprechenden Beisitzer mit den Worten „Das Volk will den Tod“ belehrt haben.

Raumwechsel notwendig: Viele an Vortrag interessiert

Der Vortrag stieß auf großes Interesse, möglicherweise begünstigt durch die Bundestagsdebatte zu Friedrich Merz’ (CDU) geforderten Verschärfungen der Migrationspolitik im Vorfeld der Veranstaltung. Nachdem sich der AKJ aufgrund von Platzmangel kurzfristig für einen Wechsel des Raumes entschied, füllten die rund 110 Interessierten auch den Hörsaal 05 in der Neuen Aula fast vollständig.

Etwa 110 Teilnehmende lauschen Professor Franz Josef Düwells Vortrag im Hörsaal 05 der Neuen Aula. Der Saal ist voll.
Rund 110 Interessierte lauschten Düwells Vortrag. Bild: Gabriel Zickermann

Nach Düwells Präsentation gab es viele Nachfragen. So wollte ein Zuhörer wissen, ob der Kampf um unsere pluralistische Republik einer sei, den Demokrat*innen verlieren könnten. „Geschichte ist offen, sie hängt davon ab, was wir aus ihr machen“, antwortete Düwell. Dabei bezog er sich auf ein Zitat des SPD-Politikers Peer Steinbrück: „Wenn Du Dich nicht um mich kümmerst, dann verlasse ich Dich … Deine Demokratie.“

Was bleibt, ist die Erinnerung

Der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust findet jährlich am 27. Januar statt. Die UNO führte ihn ein, um an die Befreiung des KZs Auschwitz-Birkenau im Jahr 1945 durch die Rote Armee zu erinnern und der Opfer des Holocaust zu gedenken. Deutschland hatte diesen Tag bereits 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Israel begeht seit 1951 einen eigenen Gedenktag, den Jom haScho’a, der dieses Jahr auf den 24. April fällt. Die Tübinger Stadtgemeinschaft kann bis zum 11. April die Rosenburg-Wanderausstellung zur NS-Aufarbeitung des Bundesjustizministeriums an der Geschwister-Scholl-Schule kostenlos besuchen.

Beitragsbild: Bundesarchiv, Bild 151-39-23 auf Wikimedia Commons

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6 Kommentare

  1. Birgit Ohde sagt:

    Super interessant, spannend und sehr gut zu lesen. Sehr aktuelles Thema. Danke für den Artikel.

    1. Online Redaktion sagt:

      Vielen Dank für das Feedback!

    2. Gabriel Zickermann sagt:

      Danke, das freut mich!

  2. Dres. . Golf sagt:

    Sehr interessanter Beitrag zur Aufarbeitung unserer Vergangenheit, aber auch zur Mahnung das hohe Gut des Rechtstaates und der Justiz zu erhalten! Auch für Nichtjuristen umfassend verständlich erklärt.
    Dres..med. E&G Golf

    1. Gabriel Zickermann sagt:

      Das freut mich zu hören. Ich kann nur zustimmen!

  3. HimbeerPerson sagt:

    Sapperlot! Was für ein fulminanter Artikel! Sehr gute und wichtige Aufklärung. Großartig. Das Zitat: „Wenn Du Dich nicht um mich kümmerst, dann verlasse ich Dich … Deine Demokratie.“ hat mich tief tangiert. Weiter so! LG 🐻

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