Die Weihnachtszeit ist bekanntlich eine Zeit des Miteinanders, die die meisten Leute mit ihren Liebsten verbringen. Doch Boris Palmer wird derweil im Rathaus zurückgelassen und macht eine ganz andere Erfahrung. Jegliche Ähnlichkeiten dieser fiktiven Geschichte zu dem Film Kevin Allein zu Haus sind nicht beabsichtigt und rein zufällig. Ein Satireartikel.
Es ist kurz vor Weihnachten im schneebedeckten Tübingen und die Glocken der Stiftskirche läuten bereits zum Abendgottesdienst. Der Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz steht in eisiger Stille, vereinzelt stapfen einige Menschen, Atemwolken vor sich hertreibend, durch den Schnee in Richtung warmes Zuhause. Auch im Rathaus ist bereits Ruhe eingekehrt, nur im Stizungssaal brennt noch Licht. Während auf dem Adventskranz in der Mitte bereits alle Kerzen flackern, neigt sich die letzte Gemeinderatssitzung vor Weihnachten dem Ende zu.
Die Finger des Protokollanten fliegen wie üblich über die Tastatur, zwei Gemeinderäte schreien sich wie gehabt gegenseitig nieder – doch Boris Palmer vertreibt sich die Arbeitszeit auf dem stillen Örtchen in seiner persönlichen Klokabine. Zwar hat seine Sekretärin nach der letzten Kontroverse mal wieder sein Handy konfisziert, doch auch für dieses Problem hat der Politiker eine Lösung parat: Er verwendet einfach sein Zweithandy. Dieses hatte er mit einigem Fingerspitzengefühl hinter den goldenen Bilderrahmen geklemmt, aus welchem ihm sein Ebenbild beim Toilettengang zusieht. Die Welt des Internets an seinen Fingerspitzen fühlend geht der Tübinger OB seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Seine Meinung ungefiltert auf Facebook posten.
Zur selben Zeit wird die Gemeinderatssitzung beendet und die Ersten haben den Plenarsaal bereits verlassen. Während sich die letzten Politiker*innen auf den Heimweg begeben, fällt dem Gemeinderat Lars Socke auf, dass Palmer von seiner Klopause nicht zurückgekehrt ist. „Wo ist denn eigentlich Herr Palmer abgeblieben?“ fragt er. „Der ist bestimmt schon zum Lanz aufgebrochen, da hat er doch heute Abend noch nen Auftritt“, entgegnet ihm Brigitte Birkenstock von den Grünen.
Die beiden treten ins Freie und schalten beim Hinausgehen den Strom ab. Auf der Männertoilette wird es schlagartig dunkel. Vor Schreck fällt dem OB das Handy ins WC. „Na gut“, denkt er sich, „i hab ja noch mei andres Handy.“ Palmer steht auf und beendet seine Klositzung mit einem ordnungs- und altersgemäßen „So!“ Er verlässt die Toilette und tritt hinaus in den dunklen Rathausgang. „Komisch, koi Krakeele, koi Lichd, sind die alle scho gange?“
Er öffnet die breiten Flügeltüren des Sitzungssaals und findet den Raum verlassen vor. Nur auf dem Tisch liegt noch die Nikolausmütze, die ihm seine Sekretärin zu Weihnachten geschenkt hat. Der OB zieht die Mütze auf, wirft seine Jacke um und bereitet sich zum Gehen vor. „Sodele, auf zum Lanz!“ Er steigt das offene Treppenhaus hinab und geht gerade in Richtung Vordereingang, da entdeckt er plötzlich zwei dunkle Gestalten vor den elektronischen Glastüren.
„Oi, Marx! Meine Dose is leer, hast du noch eine?“ sagt die eine Gestalt. „Ja klar, fang!“ Die Hände der zwei linksradikalen Sprayer fliegen über die Rathausfassade, als Marx eine Idee kommt: „Hey Engel, sag mal, das Rathaus steht doch jetzt über die Feiertage leer. Was hältst du von ner Hausbesetzung?“ – „Oi, hammer Idee, ich seh schon die Schlagzeile im Tagblatt: Wohnprojekt Marki 1 in Rathaus gegründet!“
Die Aktivist*innen vollenden ihr Graffito und setzen die Initialien ihrer Decknamen unter den Schriftzug Inklusion nicht nur für alte weiße Männer. Während Marx die Dosen einsteckt und nach einem Banner kramt, holt Engel das Brecheisen hervor, das man als Linksradikale*r selbstverständlich immer mit sich führt. Mit viel Schwung schlägt Engel auf die gläserne Tür ein, die erst beim dritten Schlag in tausend Teile zerbirst.
Sofort schießt der Adrenalinspiegel der beiden Besetzer*innen in die Höhe, jetzt geht’s um Ganze. Sie schultern ihre Rucksäcke, nicken einander zu und steigen durch die Öffnung ins Rathaus. Den langen Flur entlangblickend entdecken sie zwei sich gegenüberliegende Türen. Ohne zu zögern läuft Marx auf eine der beiden zu und öffnet sie und wendet sich an Engel: „Mach du mal die andere, dann können wir hier das Banner einspannen.“
Palmer, der sich auf das obere Stockwerk zurückgezogen hatte, beobachtet die beiden Störenfriede derweil aus sicherer Distanz. Er kneift die Augen zusammen und liest die Parole „Aufstand statt Leerstand!“ Augenblicklich ist er in üblicher Palmer-Manier empört: „Diese blöde Linksegschdremisde traued sich ja ebbes, dene werd i zeige, wo der Hammer hängt!“ Reflexhaft greift er nach seinem Handy, um einen Post abzusetzen – jedoch vergeblich, dieses ist ihm schließlich zuvor ins Klo gefallen.
Der Politiker nimmt all seinen Mut zusammen und schreitet selbstsicher die knarzende Holztreppe hinunter in Richtung Eingangsbereich. Erschrocken drehen sich die Eindringlinge um und können ihren Augen kaum trauen. Als sie die Gestalt am oberen Ende des Treppenabsatzes erblicken, läuft es ihnen eiskalt den Rücken herunter. Denn was Marx und Engel da im Halbdunkel zu sehen glauben, ist nicht etwa Boris Palmer, sondern ihre noch viel größere Nemesis: In seiner dicken Winterjacke und seiner Nikolausmütze sieht der Tübinger OB ein wenig aus wie der Weihnachtsmann.
„Oi, Engel! Siehst du, was ich sehe?“ – „Wenn du den Kapitalismus in Person auf uns zulaufen siehst, dann ja.“ Die Gesichter der Linksradikalen sind hinter ihren Skimasken bleich wie Kreide vom Anblick dieses Schreckgespenstes. Es vergehen einige Sekunden, bis sie sich aus ihrer Schockstarre lösen können. Erst laufen sie einige Schritte vorsichtig rückwärts, dann drehen sie sich um und rennen schreiend aus dem nun nicht mehr besetzten Rathaus. Palmer läuft den beiden hinterher, hinaus in die Kälte und ruft ihnen noch zu, dass er ihre Personalien haben will. Dabei stolpert er über seine eigenen Formulierungen und landet der Länge nach im Schnee. Er sieht die Gestalten in das Dunkel der Nacht verschwinden und muss frustriert feststellen, dass sie wohl ungeschoren davonkommen werden.
Palmer steht auf, klopft sich den Schnee von der Kleidung und entdeckt eine kleine Schnittwunde an seinem Arm. Mit einer gewissen Genugtuung stellt er fest, immerhin die beiden Eindringlinge vertrieben zu haben: „Boris, des Rathaus haschd du guad verdeidigd, des mached die ned nochamol! Was füra Kampf, des muss i unbedingd däm Lanz verzähla. Wenn i jedzd no die Bahn erwisch…“
Beitragsbild: Marcel Strauß auf unsplash