Politik

Für Frauen, Leben, Freiheit. Tübinger*innen bekunden Solidarität mit Protesten im Iran

Seit im September Angehörige der iranischen Sittenpolizei die 23-jährige Mahsa Amini ermordeten, kommt es dort tagtäglich zu Massenprotesten. Im Zentrum der Proteste stehen seit Beginn Schulen und Universitäten. Die aus Exiliraner*innen bestehende Organisation Iranian Scholars for Liberty (ISL) rief daher am Mittwoch zu Solidaritätskundgebungen an Universitäten in ganz Deutschland auf. Auch in Tübingen kamen hierzu zahlreiche Unterstützer*innen auf dem Platz vor der Neuen Aula zusammen.

Der Iran ist im Gegensatz zu Deutschland ein autoritärer Staat. Wer dort demonstriert, riskiert, verhaftet und sogar getötet zu werden. Dennoch versammeln sich seit September immer wieder Iraner*innen im ganzen Land. Was als Demonstrationen aufgrund der Ermordung der kurdischen Iranerin Mahsa Amini begann, hat sich nun zu einer landesweiten Protestbewegung gegen die autoritär-islamische Regierung ausgeweitet.

Für was die Iraner*innen aktuell demonstrieren, wurde dabei von dem Künstler Shervin Hajipour in seinem Lied „Bayere” (zu Deutsch: „weil/für“), das mittlerweile zur inoffiziellen Hymne der Protestbewegung gewordenen ist, zusammengefasst. Darin besingt er all die Missstände wegen denen die Menschen im Iran protestieren. Hierzu gehören neben der extremen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen auch Armut, Korruption und die Unterdrückung der Zivilbevölkerung. Sein Lied lässt er mit den Worten enden: „Für Frauen, Leben, Freiheit“. Mittlerweile gibt es wohl kaum noch eine Veranstaltung rund um die Protestbewegung, auf der dieser Satz nicht zu hören ist. Die Solidaritätskundgebung in Tübingen war keine Ausnahme.

Der Ausruf „Frauen, Leben, Freiheit“ ist mittlerweile so etwas wie der inoffizielle Slogan der Protestbewegung im Iran.
Ein weiteres Symbol sind Frauen, die ihre Haare abschneiden. Beides war auf den Plakaten der Kundgebungsteilnehmer*innen häufig zu sehen.

Iranischstämmige Tübinger*innen und Reutlinger*innen organisieren Kundgebung vor der Neuen Aula

Zu der Kundgebung aufgerufen hatte die regierungskritische Organisation Iranian Scholars for Liberty (ISL), ein Zusammenschluss von iranischen Wissenschaftler*innen, von denen die meisten jedoch an Universitäten in den USA und Kanada forschen. Vor Ort in Tübingen wurde die Solidaritätskundgebung vor allem von iranischstämmigen Tübinger*innen und Reutlinger*innen organisiert. Zusammen mit mehreren Dutzend Unterstützer*innen versammelten sie sich von 16 bis 18 Uhr vor der Neuen Aula. Dort riefen sie die Universität Tübingen gemeinsam mit Universitäten weltweit dazu auf, regierungskritischen iranischen Studierenden und Forscher*innen zu ermöglichen, ihre Laufbahn außerhalb des Iran fortzusetzen, sowie die Zusammenarbeit mit regierungstreuen Wissenschaftler*innen einzustellen.

„Es gibt keinen Fortschritt. Es gibt keine Hoffnung. Alle meine Freunde leben im Ausland. Wenn ich im Iran bin, fühle ich mich fremd. Ich kenne niemanden mehr dort, außer meinen Eltern.“

Eine Mitveranstalterin

Im Gespräch mit der Kupferblau erzählen viele der Mitveranstalter*innen davon, wie sie über Angehörige im Iran mitbekommen, wie schlecht die Lebensbedingungen dort sind und wie gewalttätig die Regierung gegen all diejenigen vorgeht, dies es wagen, dagegen zu protestieren. Wie sehr auch sie von den Ereignissen im Iran betroffen sind, lässt sich daran erkennen, dass die meisten von ihnen sich nur anonym zu den Protesten äußern wollen.

Wer im Iran demonstriert, geht ein hohes Risiko ein, denn die Sicherheitskräfte gehen mit massiver Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Die hier dargestellten Zahlen stellen nur dokumentierte Fälle von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung dar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die allermeisten Fälle undokumentiert und somit unberücksichtigt bleiben.

„Die Situation betrifft – nicht direkt, aber indirekt – alle Iraner. Ich möchte mein Privileg, hier zu leben und Meinungsfreiheit zu genießen nutzen, um den unterdrückten Stimmen im Iran zu helfen, gehört zu werden.“

Eine Mitveranstalterin

Wie verzweifelt die Lage für viele Menschen im Iran ist, beschreibt eine der Mitorganisator*innen anhand ihres iranischen Freundes- und Bekanntenkreis. Von diesem haben alle den Iran entweder schon verlassen oder haben dies noch vor. Insgesamt sei die Lage für sie daher zunehmend hoffnungslos: „Es gibt keinen Fortschritt. Es gibt keine Hoffnung. Alle meine Freunde leben im Ausland. Wenn ich im Iran bin, fühle ich mich fremd. Ich kenne niemanden mehr dort, außer meinen Eltern.“ Was ihr nun allerdings Hoffnung gebe, sei die Aussicht, dass sich durch die Protestbewegung daran etwas ändern könnte.

Eine andere Teilnehmerin erklärt, dass sie es als ihre Pflicht ansehe, die Freiheit, die sie hier Deutschland hat und die den Iraner*innen im Iran fehlt, dazu zu nutzen, dass deren Anliegen gehört werden: „Die Situation betrifft – nicht direkt, aber indirekt – alle Iraner. Ich möchte mein Privileg, hier zu leben und Meinungsfreiheit zu genießen, nutzen, um den unterdrückten Stimmen im Iran zu helfen, gehört zu werden.“

Es gibt jedoch auch kritische Stimmen, was die Erfolgschancen der Protestbewegung angeht. So äußert sich ein iranischstämmiger Teilnehmer sehr zurückhaltend auf die Frage, ob er glaubt, dass die Protestbewegung die Regierung stürzen könnte. Kurz- oder mittelfristig hält er dies für nicht möglich. Allerdings hofft er, dass diese und weitere Proteste die Regierung auf lange Sicht zum Nachgeben zwingen. Denn selbst wenn die gegenwärtigen Proteste keinen Erfolg haben, werden sie, so hofft er, zukünftige Proteste erleichtern und so früher oder später etwas im Land bewegen.

Bereits vor der islamischen Revolution von 1979 war Iran ein autoritärer Staat und daran hat sich bis heute nichts geändert. Zwar finden regelmäßig Wahlen statt, diese sind allerdings weder frei noch fair. Das politische System des Iran wird daher in Fachkreisen oft als elektorale Autokratie bezeichnet.

Neben Boykott und Sanktionen, wünschen sich die Teilnehmer*innen vor allem eins: Mehr Aufmerksamkeit

„Ich glaube den größten Wunsch, den die Iraner im Moment haben, ist dass man die Bewegung wahrnimmt.“

Ein Teilnehmer

Neben einem Abbruch aller Beziehungen zwischen Deutschland und dem autoritären Regime, äußern auch viele der Teilnehmer*innen den Wunsch, dass die deutsche Öffentlichkeit den Protesten mehr Aufmerksamkeit schenkt, als das bisher der Fall war. So berichtet eine iranischstämmige Frau wie frustrierend es für sie sei, dass viele ihrer deutschen Freunde und Bekannten die Massenproteste im Iran kaum verfolgen würden. Sie findet es auch unverhältnismäßig, wie wenig über den Iran im Vergleich zu anderen Krisen, wie etwa dem Russland-Ukraine-Krieg, berichtet wird: „Ich erwarte nicht, dass jede Stunde darüber berichtet wird. Aber ich frage mich nur, wieso hört man nicht so viel über den Iran?“

Ähnliches äußert auch ein anderer Teilnehmer: „Ich glaube den größten Wunsch, den die Iraner im Moment haben, ist, dass man die Bewegung wahrnimmt“, der größte, wenn auch nicht einzige, denn sogleich fügt er hinzu: „Natürlich reicht das nicht, man muss auch jegliche Verbindungen mit den Reaktionären mit Iran abbrechen.“

„Wir wollen, dass das ganze Regime in Deutschland, Europa in Amerika boykottiert wird.“

Sam, ein Mitveranstalter

Es gibt jedoch auch Kritik an den bestehenden Wirtschaftssanktionen. So bemängelt eine Teilnehmerin, dass es ihr durch die Sanktionen unnötig erschwert wird, Geld an ihre Eltern im Iran zu überweisen. Diese seien durch die schlechte wirtschaftliche Lage und die Inflation, die im Iran noch deutlich höher ist als in Deutschland, mehr denn je auf ihre Unterstützung angewiesen, diese kann sie ihnen jedoch nur schwer bieten, da es für sie nicht mal möglich ist, eine Überweisung von einem deutschen auf ein iranisches Konto zu tätigen.

Umso weniger Verständnis hat sie dafür, dass die Ausfuhr vieler westlicher Luxusgüter in den Iran nach wie vor nicht sanktioniert wird. Dabei würde man hierdurch viel gezielter die wirtschaftlichen und politischen Eliten treffen, die von dem gegenwärtigen Regime im Iran am meisten profitieren, als dies bei den gegenwärtigen Sanktionen der Fall sei.

Die Beendigung sämtlicher Zusammenarbeit mit der iranischen Regierung ist eine der wichtigsten Forderungen der Solidaritätskundgebungen außerhalb des Irans.
Meist wird von bis zu 400 Toten ausgegangen, die seit Beginn der Proteste durch Sicherheitsbehörden getötet wurden. Das ist vermutlich nur ein Bruchteil der tatsächlichen Anzahl der Getöteten.

Teilnehmer*innen wünschen sich Ende der Verharmlosung von Autoritarismus im Iran

Eine Studentin, die namentlich nicht genannt werden möchte, gibt auch zu bedenken, dass die Unterstützung für die iranische Protestbewegung in Deutschland nicht überzeugend sei, so lange man nur dann bereit ist, sich für die Rechte von Frauen einsetzen, wenn es darum geht, Frauen zu ermöglichen kein Kopftuch zu tragen. Wenn es man es aber gleichzeitig begrüßt, dass in manchen europäischen Länder wie Frankreich oder der Schweiz Gesetze erlassen werden, die es Musliminnen verbieten, bestimmte muslimische Kleidungsstücke zu tragen, stellt sie sich die Frage, ob es den Unterstützer*innen wirklich um die Freiheit von Frauen geht, sich so kleiden zu können, wie sie es wollen.

Überhaupt sind viele der deutsch-iranischen Teilnehmer*innen der Auffassung, dass es der iranischen Regierung sehr gut gelungen sei, den Gesellschaften im Westen über die letzten Jahrzehnte weiß zu machen, dass die Bevölkerung im Iran von sich aus ihren autoritären Vorschriften folgen würden und daher von sich auch gar kein Bedürfnis daran hätte, frei von diesen zu sein.

Dass es sich bei dem Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit nicht um einen universellen, sondern um ein allein westlichen kulturellen Wert handelt, der dementsprechend auch für Kulturen außerhalb des Westens keine Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen könnte, ist eine Behauptung, die auch von anderen autoritären Staaten, maßgeblich von der Volksrepublik China, verwendet wird, um sich gegen Kritik aus dem Ausland zu verteidigen.

Die Proteste im Iran und andernorts legen jedoch nahe, dass diese Behauptung nicht stimmt. Gerade die iranischsstämmigen Teilnehmer*innen der Kundgebung wünschen sich daher, dass man in Deutschland und Europa endlich aufhört, den Autoritarismus im Iran und anderen Ländern des Mittleren Ostens zu verharmlosen, indem man ihn als Teil einer vermeintlich traditionelleren und konservativeren Kultur betrachtet, der die Menschen von sich aus anhingen. So gesehen zeigt die Protestbewegung im Iran auch, dass der durchschnittliche Iraner eben nicht weniger ein Bedürfnis nach einem Leben in Freiheit hat, als der durchschnittliche Deutsche und dass er nicht weniger ein Recht darauf hat.

Fotos und Grafiken: Thomas Kleiser

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1 Kommentar

  1. […] um, dass die iranische Protestbewegung irgendwann in Vergessenheit geraten könnte. In der ersten Solidaritätskundgebung im November vor der Neuen Aula beklagten sich viele Teilnehmer*innen über die mangelnde mediale […]

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